Zwiegespräche

Das Hufgetrappel des großen, schneeweißen Hengstes trug die junge Frau rasch durch die noch neblig verhangenen Wiesen und Felder dahin, sie wirkte wie ein Geist mit dem langen weißen Zopf aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten die nun wild im Wind hinter ihr herwehten, der schwarzen Kleidung und dem weißen Pferd das im Nebel beinahe unsichtbar war. Doch der Hengst trat kein einziges Mal fehl im gestreckten Galopp, schneller und immer schneller flogen sie dahin, die Wangen der Frau nicht nur nass vom Morgennebel. Sie hetzte, sie jagte, sie floh davon vor dem Gefühl, vor dem überwältigenden Gefühl das ihr jeden Moment das wild hämmernde Herz zu zerreißen drohte das in ihrer Brust flatterte wie ein Vogel im Käfig der seiner Schranken müde geworden war.


Hinter ihr her jagte ein dunkler Schatten, das braune Ross hielt gerade so mit dem Apfelschimmel mit der noch keine Anzeichen von Müdigkeit zeigte, ganz so als wüsste er das er seine Herrin nur möglichst weit davontragen müsste von dieser Angst, der Panik, dem Schmerz. Tiefer noch beugte sich die kleine, zarte Frau über den Hals des prächtigen Hengstes und dieser streckte sich noch weiter. Die Beine griffen weiter aus, Muskeln spielten unter dem weißen Fell, eine wahre Hetzjagd spielte sich vor den Toren der Stadt ab und doch erklangen keine Rufe, kein Geschrei. Still war es bis auf das schwere Atmen des Pferdes und des Hufgetrappels und während die Frau mit ihrem liebsten Kajus verschmolz beruhigte sich auch endlich ihr Herz, ihr Atem ging regelmäßiger und die Tränen machten sie nicht mehr nahezu blind.


Ihr Schatten war noch immer dicht auf ihren Fersen, doch wirkte seine Präsenz nicht mehr bedrohlich wie Gewitterwolken am Himmel. Schützend und beruhigend, so wie es sein sollte. Trotz ihrer Angst die nun endlich Flügel bekam und von ihren Schultern wich hielt sich die junge Frau sicher im Sattel, die Angst kam nicht von der rasenden Geschwindigkeit mit der sie nun über den Waldweg jagte, eher beflügelte sie dieser Ritt. Mit einem leisen Wiehern preschte ihr Begleiter weiter, schneller noch, um die Kurve, über den kleinen Hügel und dann sprang er über den kleinen Bach hinweg als wäre es nur ein weiterer Schritt im geschmeidigen Gang des riesigen Hengstes. Sie flog. Nur wenn sie flog hatte ihr Geist Ruhe, nur wenn sie flog gab das Gezeter endlich Ruhe.


Die wilde Hetzjagd führte sie über die Felder, durch das kleine Waldstück, am Apfelhain vorbei, über die Brücke zurück, den Weg entlang, zur Festung hin und dann scharf nach links, den Hügel hinauf. Inzwischen atmete Kajus doch schwer, doch sie wusste er würde sie noch weiter tragen. Manchmal dachte sie darüber nach einfach weiter zu reiten. Bis zum Ende des Tales, durch den engen Pass, ins Gendarran-Feld hinein, nach Löwenstein und dort im Getümmel der großen Stadt zu verschwinden. Sie könnte als Heilerin sicherlich genug Münzen verdienen um ein gutes Leben zu verbringen. Ohne all die Lasten die auf ihr zu liegen schienen. Doch das würde ihr Schatten nicht zulassen. Sie zügelte Kajus mit der gleichen eisernen Beherrschung die sie nutzte um diese Gedanken von Freiheit und Flucht wieder einzufangen und sperrte sie in die Kiste aus der sie ausgebrochen waren. Die Nässe auf ihren Wangen stach noch ein wenig nach vom Reitwind, doch jetzt wo sie stand wurde es besser. Ihr Körper glühte vor Anstrengung den wilden Hengst im Zaum zu halten, ihn dorthin zu lenken wohin er gehen sollte und doch würde sie sich nie wieder ein anderes Tier wünschen. Immerhin war er ein Geschenk gewesen.


Das leise Knarren des Leders begleitete ihren Abstieg und sie schwang sich ohne Hilfe aus dem Sattel. Darauf bestand sie. Jeden Morgen. Sie wollte und brauchte keine Hilfe. Das letzte Mal als sie sich auf die Hilfe eines Mannes verlassen hatte war ihr noch gut in Erinnerung geblieben, auch wenn es schon viele Monde in der Vergangenheit lag. Manchmal dachte sie noch an ihn. Es wurde immer seltener. Früher war es beinahe täglich gewesen, sie hatte sich mit Gedanken an ihn und das Flittchen gefoltert, wie viel schöner sie gewesen war mit den roten Haaren, den blauen Augen, dem schnellen Lachen und der weiblichen Statur. Ihre Finger strichen die warme Reitjacke glatt, über die schlanken Hüften hinab, die zierliche Statur und dann krallte sie die Finger fest in ihre Handfläche hinein. Contenance. Das war ihre Rüstung. Sie verlor nie die Kontrolle. Nicht beim Reiten und nicht beim Gedanken an ihn. Er hatte sie nicht geliebt und sie würde nicht um jemanden trauern der sie nie so geliebt hatte wie sie es getan hatte.


Hinter sich hörte sie ihren Schatten der nun selbst aus dem Sattel stieg und ihr die Zügel abnahm, ohne sich umzuwenden ging sie durch das Tor, über den gekiesten Weg, zwischen den kleinen Ruhenstätten entlang, links, dann rechts, geradeaus bis zu der großen Eiche, zwei Reihen weiter und dann stand sie vor ihnen. Sie ging in die Knie und fegte ein wenig verirrte Erde von der Umrandung der Grabstätte, ganz distanziert beobachtete sie das ihre Finger dabei zitterten. Ihr Puls raste noch immer, doch nun nicht mehr vor Anstrengung. "Ich vermisse euch." Das sagte sie den beiden jeden Tag. Und jeden Tag tat es ein klein wenig weniger weh. Am Anfang hatte sie die Worte kaum über die Lippen gebracht, erstickt von Schluchzen und Tränen hatte sie hervorgewürgt, inzwischen zitterte ihre Stimme nur noch. Die Tränen kamen trotzdem und hier, wo sie alleine war hielt sie diese auch nicht zurück. Die heißen Tropfen zogen ihre Bahn über die geröteten Wangen hinab, die silbrigen Strähnen klebten kühl an ihrer Haut, beschwert von Nebel und den bereits vergossenen Tränen. "Ich vermisse euch so sehr." Die Handschuhe zupfte sie von den Fingern, dann grub sie diese in die dunkle Erde hinein. Manchmal erschien ihr alles dunkler hier, drückender. Doch nicht hinzugehen trieb sie fast in den Wahnsinn, dann wurde die Last nur noch schwerer, so schwer das selbst ihre Flüge mit Kajus sie nicht mehr zu vertreiben vermochten.


Kleine Blumen aus einem Beutel an ihrem Gürtel fanden ihren Weg in die Erde hinein, dabei verschmierte sie zwar die helle Haut mit Erde, doch es war ihr gleichgültig. Die Erde fühlte sich kühl und schwer an, die Blüten waren hell und freundlich. Ein kleiner Bund Gänseblümchen für jeden. Früher hatten die beiden gemeinsam Ketten und Kränze daraus geflochten für sie und einer davon hing getrocknet in ihrem Zimmer, beschützt von ein paar Fünkchen Magie. "Ich habe mich mit Mutter gestritten." sie konnte die warmen Blicke, fragend und mitfühlend fast fühlen als sie die kleinen Löcher für die Blüten grub. "Sie ist wütend auf mich weil ich ausgezogen bin. Ich kann sie verstehen." Im gleichen Moment schüttelte sie den Kopf. Eigentlich konnte sie es nicht. Das war eine Lüge die sie sich selbst erzählte. "Sie vermisst euch auch. Doch ich kann euch nicht ersetzen." Eine kleine Briese strich ihr die tränennassen Wangen und Strähnen und nun schluchzte sie doch leise. "Ich weiß. Ich weiß. Sie liebt uns alle gleich viel, doch sie erstickt mich. Ich kann nicht atmen." Frische Tränen rannen ihre Wangen hinab, inzwischen sickerte die Nässe in ihren Kragen hinein und sie konnte sich doch nicht dazu aufraffen das Taschentuch hervor zu kramen das in ihrer Jackentasche war.


"Wisst ihr, ich vermisse euch jeden Tag. Es tut manchmal furchtbar weh das ihr nicht mehr hier seid und ich bin so wütend das ihr mich allein gelassen habt. Das war nicht gerecht. Ihr seid in eure Kriege gezogen und ich musste daheim bleiben und lernen zu heilen. Nicht zu kämpfen. Ich wünschte ihr hättet mich mitgenommen. Vielleicht... vielleicht hätte ich euch retten können." Ihre Stimme brach, diesen Vorwurf hatte sie den beiden schon so oft gemacht und jedes Mal fühlte es sich hohl an. Nicht richtig. "Es tut mir leid." Eine Träne tropfte hinab auf das Gänseblümchen das sie gerade in die Erde gesetzt hatte und sie schluchzte, die zarten Schultern zitterten. "Ich will euch nicht anlügen." die sonst so klare, sanfte und zarte Stimme brach erneut, doch diesmal riss sie sich nicht zusammen. Sie weinte bis ihr die Lungen schmerzten, bis ihre Augen sich geschwollen und rot anfühlten und sie den beiden wortlos ihr Herz ausgeschüttet hatte. Sie brauchte keine Worte dafür. Nicht wirklich. Sie hatten sie auch so immer verstanden. "Ich bin wütend. Nicht auf Mutter, nicht auf euch. Ich bin wütend auf mich." Das hatte sie noch nie gestanden, weder sich selbst noch ihnen. Die sanfte Briese kehrte zurück und es fühlte sich fast so an als wäre sie wärmer, als hülle der Wind sie in eine sanfte Umarmung.


Beide Arme schlang sie um ihren Körper, kniend vor den kleinen Fleckchen Erde an denen nun so viel Leben ruhte. "Ich bin wütend weil ich überlebt habe und ihr nicht. Ich bin so furchtbar wütend auf mich selbst. Wieso habe ich verdient zu leben wenn ihr beiden so viel stärker und mutiger seid als ich es jemals sein werde?" Sie brauchte die Worte nicht laut sagen, es genügte auch das raue Flüstern das sie gerade so hervorbrachte. Es war endlich heraus. Das Stechen in ihrem Herzen das sich so hartnäckig dort manifestiert hatte wurde ein klein wenig schwächer und sie schlang die Arme noch fester um sich selbst. Wenn sie die Augen schloss konnte sie fast die Stimmen der beiden hören wie sie sie zur Ordnung riefen. So ein Blödsinn. Sie war wertvoll. Wertvoll und wichtig. Es wert geliebt zu werden. Immer wieder hatten die beiden es ihr gesagt nachdem ihr Herz gebrochen worden war. Und nur halb im Scherze angeboten auch ein paar Dinge bei dem zu brechen der ihr diesen Schmerz angetan hatte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen bei dieser Erinnerung. Es war so leicht zu vergessen wie sehr die beiden sie geliebt hatten. Wie sehr sie sie geliebt hatte. Wie nahe sie einander gestanden hatten. Das sie niemals zugelassen hätten wie sie nun mit sich selbst umging.


Das Stechen wurde noch eine Spur schwächer und sie richtete sich wieder aus der zusammengekrümmten Pose auf, in der sie versunken im Gras gehockt hatte. Mit tränenfeuchten Augen befreite sie die kleinen Blüten von der Erde und der Nebel verdichtete sich um ihre Handgelenke bis er als kleine Wassertropfen hinabregnete und den Blumen jenes Wasser spendete das sie nach diesem Transport so bitter nötig hatten. Sie saß noch still dort, badete in der Wärme der Anwesenheit der beiden. Hier fühlte sie sich ihnen doch am nächsten. Nach langen Minuten richtete sie sich auf, die Finger nun wieder sauber gewaschen von der Erde. "Bis morgen Thomas." sie lehnte sich vor, drückte einen Kuss auf ihre Finger und von dort auf den kühlen Stein der den Namen ihres ältesten Bruders trug. "Bis morgen Richard." Auch sein Grabstein erhielt einen Kuss in gleicher Weise. Jeden Tag seit der Beisetzung. Ihr Schatten war es schon gewöhnt, dass sie hier einige Zeit zubrachte und auf keinen Fall gestört werden wollte.


Als sie sich abwandte, noch immer aufgewühlt und in Gedanken war ihr fast so als würde sie einen warmen, sanften Druck auf ihrem Rücken fühlen. Sie stockte im Schritt und das Stechen wurde wieder etwas weniger scharf, ein bisschen weniger schmerzhaft. Spannung wich aus ihren Schultern als sie endlich einen tiefen Atemzug nehmen konnte und Ruhe sich in ihr ausbreitete bei diesem Gefühl. Es wirkte vertraut und gab ihr Sicherheit. Ein wenig Frieden. Ihre Handschuhe hatte sie auf dem Weg wieder angezogen, die vor Kälte roten Finger wurden langsam wärmer darin und sie strich über den Hals ihres Pferdes. "Du bist das Beste was sie mir je geschenkt haben Kajus." der große Hengst schnaubte leise auf und nickte mit dem Kopf, ganz so als stimme er ihr nicht nur zu, sondern als verstünde er sie auch. Aus eigener Kraft schwang sie sich in den Sattel. Die beiden waren nicht mehr da um ihr hinein zu helfen.


Ihr Blick wanderte einmal langsam über den Friedhof hinweg, zurück zu ihrem Schatten. Ihrem treuen Schatten der sie immer schützen würde. Fragend sah sie ihn an, doch er schüttelte den Kopf. Dankend, doch ablehnend. Er würde morgen gehen. Mit einem leisen Schnalzen lenkte sie Kajus herum und ritt zurück zur Stadt. Das Tempo zügig, doch nicht so halsbrecherisch wie auf dem Hinweg. Sie stieg im Hof ab, gab die Zügel an ihre Leibwache weiter und strich noch einmal über ihre Augen hinweg. Ein Fünkchen Magie tänzelte über die zarten Finger und die Rötung verschwand, dann klopfte sie und trat ein als das Dienstmädchen die Türe öffnete. "Guten Morgen liebste Baroness!" die Stimme vermochte es jeden Morgen ihr ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, ganz gleich wie sehr sie geweint hatte. "Guten Morgen Rowenna." Die Wärme die auf ihrem unteren Rücken gesessen hatte stieg beim Anblick der jungen Dame in ihr auf und vertrieb die Kälte des Ritts. Das Stechen in ihrem Herzen war fast nicht mehr zu fühlen wenn sie von der Familie umgeben war die sie so warm aufgenommen hatte. Es geriet in Vergessenheit. Besonders in Momenten die sie mit Rowenna teilte. Wieder fühlte sie die Wärme von ihrem Rücken abstrahlen und stockte in ihrer Bewegung für einen winzigen Moment. Dann schüttelte sie wieder den Kopf und ließ sich von Rowenna in den Salon ziehen. Sie hatte ein Taschentuch zu besticken.

Kommentare 4

  • Die gefällt mir.
    Ich kann die Schwere spüren, ohne davon erdrückt zu werden.

  • Intensiver Einblick in Renas Gefühle für ihre Brüder, ihren Umgang mit deren Tod und die Lücke, die er gerissen hat. Sehr greifbar, wie sie fühlt und einen Ausgleich dafür sucht, indem sie sich körperlich erschöpft. Auch eine Art, so etwas zu betäuben.


    Nebenher: danke für das Kompliment an die Familie.

    • Vielen Dank, es tat mir gut die Geschichte zu schreiben und ich denke Rena tat es auch gut das sie endlich mal verfasst wurde. Es ist mir nicht leicht gefallen, doch ich freue mich umso mehr das du es als gelungenen Einblick siehst.


      Und das Kompliment muss gar nicht so nebenher sein, ohne euch wäre der Char nicht so lebendig wie er es jetzt ist.