Schrei n

Er stand vor dem Schrein der Leopardin.
Er stand hier schon so lange das sich eine dünne Schicht Schnee auf seinen Schultern gebildet hatte. Die einzelnen Kristalle hatten sich verflochten und bildeten eine feine Puderdecke, welche mit einem sachten Pusten, oder einem Wedeln der Hand erneut aufgebrochen und davon geweht werden konnte.
Den Blick empor gehoben zu der Schnitzerei, welche den Kopf des erhabenen Tieres zeigte. Leicht geöffnet das Maul, die Ohren gespitzt und der Blick wachsam nach vorne gerichtet schien es als würde das Tier jeden Moment lebendig werden und zu ihm hinab steigen. Doch das Leben hier hatte erst vor wenigen Tagen sein bitteres Ende gefunden. Frischer Schnee war inzwischen gefallen und doch wusste Havar genau, dass sich unter der weißen reinen Schicht noch immer das Blut der Tiere befand. Sie hatten ihr Leben für den Schrein gegeben. Sie hatten ihn verteidigt. Sie hatten ihn beschützt und am Ende wahrscheinlich damit schlimmeres verhindert. Ihm war fast so als könne er den Schrei der Adlergreifen noch immer von den Bergen wiederhallen hören, als sie auf der anderen Seite der Schlucht warten mussten. Warten. Etwas worin er wahrlich noch immer ein Welpe war. Ungeduldig tigerte er vor zwei Tagen auf der gegenüberliegenden Seite der Hängebrücke hin und her. Neben ihm der Bär, welche in seiner Rüstung ebenso gefangen war, wie der Wolf selbst zum Warten verdammt. Vor ihnen auf der Brücke die Weiber, wobei eine mehr in der Brücke hing, als oben drüber hinweg zu schreiten. Und am Schrein der Kampf, welcher ohne sie lief. Der Norn drehte den Kopf, wodurch sein Blick über die Schulter zur Hängebrücke fiel. Er war schon viele Male darüber gelaufen. Und jedes Mal hatte sie sein Gewicht gehalten. Es wurde Zeit das die Seile und ein paar Balken ausgetauscht würden. Darum würde er sich kümmern, wenn die Schreinreise abgeschlossen war.
Die kleinen Käfer, die vor zwei Tagen noch trommelnd auf dem Schrein hockten waren inzwischen in den Bäumen verschwunden.
Havar griff sich an den mitleren Bartzopf, was er öfter tat wenn die Gedanken ihn auf eine Reise mitnahmen. Warum waren sie hier? Warum hatten sie sich so großflächig auf den Schrein gesetzt? Waren sie Angriff oder Schutz? Er verstand es nicht. Schwer schnaubte der Norn aus und das erste Mal seit Langem hatte er das Gefühl, dass das eigene Gewicht ihn fast erdrückt. So viele Fragen und keine Aussicht auf Antwort. Er brummte in sich hinein und erst Grimm, dessen Schnauze sich in die flache Hand seines Freundes drückte holte ihn aus dem Kreis der unendlichen Gedankenläufe zurück.
"Na Dicker, heute Abend geht es weiter. Bist du bereit?" Der Wolf blinzelte. Mehr Antwort gab es von dem Tier nicht. Havar ging vor dem Wolf auf die Knie und zupfte ihm ein paar Tannennadeln aus dem struppigen Fell und klopfte ihm dann einmal freundschaftlich die Flanke.
Als er sich erhob griff er nach der kleinen Holzscheibe, welche in seiner Tasche ruhte. Sie hervor geholt hielt er das Stück ins Licht und drehte es ein wenig. Die Scheibe zeigte einen geschnitzten Pfotenabdruck auf der einen und zwei Runen auf der anderen Seite. Havar trat an die Feuerschale des Schreins heran. Leise sprach er seinen Gruß an die Leopardin, leckte über die geschnitzte Pfote hinweg und übergab das Kleinod den Flammen.
Es knisterte leise als sich beide Wölfe auf den Rückweg zur Reisegruppe machten.

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