Neuer Wind

Ein rauer Wind blies durch das hochgelegene Tal und die Norn auf den Wachposten zogen ihre Felle enger um die Schultern. Hier oben im Norden war alles gefährlich. Neben den Drachendienern, die vermehrt auf die Barrikaden der Gemeinschaft prallten, setzten die Naturgeister den Norn hier stark zu. Doch man beschwerte sich nicht, denn es gehörte einfach zum hiesigen Leben. Hinter den Barrikaden aus Holz, Stein und gefrorenem Schnee tummelten sich die Norn des Rabenlied Klans in ihren alltäglichen Aufgaben. Es wurde gekocht, gegessen, Kinder lernten den Umgang mit allerhand Waffen (sofern sie sich geschickt genug anstellten und Willen zeigten), Krieger schärften ihre Klingen, Rüstungen wurden ausgebeult und Schilde geflickt. Weiber und Kerle plärrten Befehle und Ansagen quer durch die Gemeinschaft. Es war ein Tag wie jeder Andere.



Sie hatte ihren Schild vor sich in den Schnee gestemmt und dieser lehnte locker an ihren Beinen. An ihrer Seite stand Skrýmir. Ihr Bruder hatte die Arme vor der massigen Brust verschränkt. Er gähnte herzhaft. Bereits seit Stunden standen sie hier auf ihrem erhöhten Posten und glotzten die Hänge entlang. Zwischen ihren Fingern schnippte sie den flachen Bergflachs in schimmrigem grau schwarz hin und her. „Stadr … hör endlich auf damit!“ Der Kerl herrschte sie urplötzlich an und der Anhänger schoss an ihrer Hand vorbei, als sie ihn wieder schnippte. Das Band, an welchem er befestigt war spannte sich, bis der Halbedelstein der Schwerkraft nachgab und in Richtung Boden sank. „Das nervt. Ich kann mich nicht konzentrieren.“ Er gähnte erneut und Varda hob ihre Brauen an. Sie schnaubte, fingerte nach dem Anhänger und wickelte sich das Band zurück um das Handgelenk. Wie sie es hasste, wenn er sie so nannte. Und wenn er ihr Sachen vorschreiben wollte. Skrýmir schrieb ihr immer Sachen vor. Stadr tu dies nicht – Stadr tu das nicht – Stadr schmatz nicht so – Stadr mach langsamer …
Und dazu immer die selbe alte Leier. Man wartete auf den nächsten Angriff der Drachendiener. Man wartete immer. Wie sie es hasste, zu warten.
Varda schnaubte, schnalzte mit der Zunge, woraufhin Skrýmir den Kopf drehte und sie direkt ansah. Er hob in gleichgültiger Weise die Schultern. „Ney. Wir greifen nicht an. Lass es einfach mal gut sein, Stadr.“ Sie verdrehte genervt die Augen. Schon wieder schrieb er ihr vor, was sie zu tun und zu lassen hatte. Missmutig brummend über die wenige Unterstützung Skrýmirs riss sie ihren Schild aus dem Schnee und stapfte davon. Sie hatte das Warten satt. Sie hatte es schon unglaublich lange satt.



Eine ganze Weile wanderte sie um die Gemeinschaft herum, immer an den Schanzpfählen entlang. Seit Tagen hatten die Drachendiener nicht mehr angegriffen oder sich überhaupt blicken lassen. Varda schnalzte mit der Zunge. Sicher heckten die verdammten Eisnorn Pläne aus, wie sie Rabenlied endlich auslöschen konnten. Oder schlimmer noch: Wie sie die Norn verderben konnten! Zornig trat sie vor sich in den Schnee, schlug ihren Schild in den Schneehaufen neben dem ausgetretenen Pfad. Wie sie alle einfach rumhocken und warten konnten! Sie verstand es nicht. Hatte es noch nie verstanden. Erneut ein Tritt in den wehrlosen Schnee. Alles faule Schisser! Angsthasen! Norn, die sich um ihre Pflicht drückten! Der Schild wurde aus dem Schnee gezogen und der lange Zopf zurück über die Schulter geworfen. Gerade wollte sie ihrer Wut erneut freien Lauf lassen, als sie aufhorchte. Mehrere Laute brachten sie zum Stocken. Alte Worte, wie sie selbst die Ältesten nur selten sprachen. Sie dachte zuerst, es wäre Einbildung. Die Ältesten verließen die Gemeinschaft nie. Varda blinzelte. Dann warf sie alle Regeln und Vorschriften ihrer Brüder bei Seite und rannte los. Fort von der Gemeinschaft, den Hang hinauf.


Oben angelangt offenbarte sich die Szenerie am Fuß jenseits des Hanges. Ein Norn stand umringt von Eisbrut und Söhnen Svanirs. Flammen brachen hervor, leckten an den Leibern der Verdorbenen und über die Schreie hinaus tönten die Worte, die der Norn einem Mahnwort gleich rief. Von hinten schrie Skrýmir. Diesen ignorierte sie. Der Norn am Fuß des Hanges zog ihre Aufmerksamkeit magisch an. Bläuliche Runen legten sich um ihn herum auf den Boden. Sie erkannte die Ähnlichkeit mit der alten Schrift. Zuerst wollte sie weiter eilen, um ihm zu helfen. Doch rasch bemerkte Varda, dass der Norn ihre Hilfe nicht brauchte. Seine Magie und seine Kraft war stark, zwang die Verdorbenen in ihren wohlverdienten Tod. Er kämpfte mit dem Segen der Geister. Es faszinierte sie.



Erst viele Augenblicke später trafen sich die Blicke des Fremden und der jungen Norn. Er neigte das Haupt. Sie tat es ihm gleich. Mit festem Schritt erklomm er den Hang, bis er vor ihr stand. Mild war das Lächeln.
„Die Geister zum Gruß, Kind des Rabenlieds. Man nennt mich Vafthrúdnir den Feuergänger.“
Rasch fingerte Varda das Beutelbuch hervor und schlug die erste Seite auf. Ordentlich stand dort geschrieben: Varda
Sie lächelte ihn an. Ihn, der die Veränderung zum Klan und zu ihr brachte.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 10

  • Ich glaub so Kampfwütig wie Varda ist würde ich ihr nicht freiwillig begegnen wollen :D
    Schön geschrieben, wie immer! Und dann auch ein kurzer Moment mit Vaf :D

    • Ach, die ist doch ganz handzahm. Vielleicht.
      Danke für's Lesen. :)

  • Sehr tolle Geschichte! Und....und aaargh vaf lebt?!
    Ich mags wirklich gern!

    • Ich sollte doch die Jahreszahl einfügen... ^^' Sie spielt ungefähr 1315 n.E. +/- 4 Jahre, ganz grob gesehen.
      Aber es freut mich, dass Du sie magst. <3

  • wenn man nur kurz mal drüberfliegen will und die zigarette dann doch ungeraucht verqualmt. *g*
    schöne schreibweise und iwie kommt da ganz gar norn-feeling auf. macht lust auf mehr!

    • Es freut mich, dass ich Dich vom Rauchen abgehalten habe!
      Natürlich freut mich auch Dein Kommentar. Solche Worte spornen doch an, diese Lust auf mehr zu stillen. :)

  • Wieder toll geworden. :)
    Wie die Veränderung wohl aussehen mag... lese ich hoffentlich im nächsten Teil!

    • Dieser Druck! ^^'
      Nein. Danke für Deine Worte. Ich freue mich ja immer sehr über Kommentare und mal sehen, vielleicht gibt es ja wirklich einen nächsten Teil.

  • Ich mag deinen Schreibstil und lese die Norn-Geschichten immer wieder sehr gern. <3