Beute des Hungers

Der Gegenwind treibt Schnee wie tausend eisige Nadeln in sein bleiches Gesicht. Die weiße Welt liegt still und verstorben da, nur in den Ohren zweier Jäger dröhnt das Blut, kocht der heiße Schmerz. Ein weißer Hengst und sein fahler Reiter donnern den Hang hinab, kämpfen sich durch die lähmende Decke die das Feld begräbt und durch den blassen Vorhang aus tobenden Flocken. Nur eine schmale Fährte, die Spuren langer dünner Beine im Schnee weisen ihnen den Weg. Die Kälte des Koloss ist grausam dieses Jahr und doch steht ihnen der Schweiß in den Pelzen und gefriert, wo er den kalten Wind berührt, zu glasigen Perlen. Der Hunger seines Reiters und seine eisernen Sporen treiben den Schimmel im Galopp über die Grenze seiner Erschöpfung hinaus, bis an den Rande des Wahnsinns. Unter dem Sattel des Mannes bebt das Fleisch, er spürt die Pein in seinen klammen Fingern, die sich bei diesem wilden Ritt mit Mühe festhalten müssen und er fühlt auch die Hitze, das schnelle Herz, den Lebenskampf seines Pferdes. Als würde er sich an eine lebende Dampfmaschine klammern, stiebt der heiße Atem aus seinen Nüstern und es trommeln die Hufen über den kälteharten Untergrund. Der Mann weiß, dass er sein Ross zu weit treibt doch er kann nicht aufgeben, nicht anhalten, nicht jetzt. Gerade noch hat er sie gesehen, die Schemen einer flüchtigen Gazelle. Er verfolgt sie bereits seit Stunden, die Stärkste und Zähste, die Einzige die die Pirscher in diesem Tal noch nicht erlegt haben so fürchtet er. Irgendwann muss sie erschöpft sein… irgendwann wird er sie zu Tode gehetzt haben, ebenso wie seinen treuen Begleiter.
Der Hunger zwingt ihn, hält seinen Verstand fest im Griff. Mehr als zwei Monde, seit er das letzte Mal etwas zu Essen hatte und das Adrenalin und die Schwäche in seinen Gliedern lässt ihn seine Not in keiner Stunde vergessen. Würde ihr magisches Band ihn nicht die Angst seines geliebten Tieres fühlen lassen, so wäre es vielleicht schon längst dem Hunger des Jägers zum Opfer gefallen. Und an diesem Tag hat sein innerster Überlebensinstinkt seine Sympathie für das wilde Pferd endlich nieder gerungen, so fest hat er sich in der Spur seiner Beute verbissen.
Dort auf der Anhöhe! Die Kälte brennt ihm in den Augen und er ist sich nicht sicher - hat er sie wirklich gesehen? Da war doch etwas. Nur noch fünf Pferdelängen vielleicht! Noch einmal tritt er die Sporen tief in den Schenkel des Hengstes, seinen eigenen Körper fühlt er nicht mehr, nur noch den Schmerz des weißen Riesen und dessen Furcht die ihn zwingt dem Beutetier hinterher zu fliehen.
Ist der blasse Reiter der Jäger oder ist er selbst auf der Flucht vor Grenths kalten Händen?
Nun kann er die hastende Gestalt des Huftieres deutlich erkennen. Die Gazelle ist zurück gefallen und lahmt am linken Hinterbein. Dem Tode so nah und dennoch scheint es, als würde sie über den Schnee hinwegfliegen. Er weiß dass sie jeden Schmerz missachtet, dass sie so schnell rennen wird wie sie kann, bis ihr Herz versagt. In dieser Welt, jeder Zivilisation so fern, gibt es keine Gnade. Kein Verständnis für Schmerz und Erschöpfung, es existiert nur der Kampf um Töten oder Verhungern und um Laufen oder Sterben. So hat auch der Mann seine Menschlichkeit vergessen und gelernt, jede Qual zu ertragen, auch mit gebrochenem Bein weiter zu laufen und bis zum Ende der allerletzten Hoffnung zu funktionieren.
Seine steifen Finger brennen als er mit einer Hand den Sattelgriff loslässt, um einen weichen Lederstreifen aus seiner Hose zu ziehen. Eine einfache Steinschleuder hat er nur, denn die Sehne seines Bogens ist schon vor Wochen gerissen. Sein Geschoss hat er bereits eingelegt und wirbelt die Waffe nun zirrend durch die Luft. Ein Versuch. Einen, bis die letzte Kraft seines Pferdes versiegt sein wird, er spürt es. Aber er, der Jäger, der seit Jahren frisst und nie gefressen wurde, weiß seine Waffen zu führen. Das schlanke Tier strauchelt, als sein Leder schnalzt, er seine Munition verschießt. Irgendwo hat er getroffen, wo ist ihm gleich. Ein heftiger Ruck, im nächsten Augenblick ist er umhüllt von nasser Kälte und verliert einen Moment die Orientierung. Wo ist sie hin? Wo ist sein Pferd? Wo ist der Boden, wo der Himmel? Sie sind noch da. Zwei Leben die neben ihm versiegen. Er kämpft sich aus dem dicken Schnee, wirft sich auf den Rücken der Gazelle ehe sie noch einen Fünkchen Kraft findet und aufspringt. Mit seinem Dolch beendet er den Kampf und als das heiße Blut in Strömen über seine Hand rinnt, fühlt er wie die Kraft zurück in seine Glieder kriecht. Ein Hoch, dass viel mehr sein muss als der Triumph eines Raubtiers, ein Welle von Macht und Leben die auf seinen Gefährten überschwappt. Der Waldmann lässt sich erschöpft auf den Leichnam sinken. Der leblose Körper ist eiskalt als würde er seit Tagen liegen, aber die Herzen der Jäger bleiben warm und er weiß: heute werden sie nicht sterben und vielleicht auch nicht morgen.