Wie die Made im Speck

Mit großen und weit ausholenden Schritten jagte er über die weiße Tundra hinweg. Ein einzelner dunkler Fleck inmitten von strahlend heller Unberührtheit, die das Licht der Sonne so gleißend grell zu spiegeln verstand, dass man sich sehenden Auges in die Blindheit stürzte, gab man nicht Acht auf sich. Der Himmel war klar und von einem reinen blau an diesem jungen Morgen, der für sich selbst noch keine Trübung erfahren hatte. Die vermeintlich wärmenden Sonnenstrahlen verloren ihre Kraft auf ihrem Weg zur Erde hinab und bargen einzig noch das verräterische Licht in sich, als sie den Grund schließlich erreichten. In der Ferne erhoben sich die scharfkantigen Zacken der Zittergipfel. Spitz und geschliffen erweckten sie den Anschein, als wollten sie den Himmel selbst zerschneiden und befreien was auch immer hinter ihm war. Keine Wolke bedeckte das helle Firmament, kein Vogel kreuzte die Strahlen der Sonne, kein Windhauch blies über die Steppe aus Eis und Schnee gemacht. Das Grollen einer weit entfernt abgehenden Lawine erreichte die Ohren des Läufers nicht, der sich seinen Weg durch die blendende Pracht bahnte, ohne Ziel, ohne Sinn vor Augen zu haben, glich eine Richtung hier doch allen anderen.


Levi schnaubte unter der Anstrengung seines Laufes. Seine Lungen rasselten, geplagt durch die bitterkalte, trockene Luft, die sie mit jedem Atemzug gierig in sich sogen. Unter der dicken Lederkleidung waren Stoff und Linnen längst klamm vom Schweiß geworden, Tribut der steten Muskelkontraktionen, die den massigen Leib in Bewegungen hielten. Brocken geeisten Schnees stoben zu den Seiten davon, während der Iorga sich seinen Weg bahnte. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er sich ein paar Strähnen Blond aus seinen Augen. Das Gewicht des verschnürten Bündels auf seinem Rücken fühlte er lange schon nicht mehr. Er war sich dessen Anwesenheit dennoch bewusst, denn die Riemen des Rucksacks drückten unangenehm auf seine Achseln, waren sie nicht für einen derartigen Gewaltmarsch gemacht. Ihm blieb keine Zeit für eine Rast, kein Augenblick, um dem malträtierten Fleisch etwas Ruhe zu gönnen, denn obgleich er seine Verfolger gerade nicht sehen konnte, wusste er doch um ihre Anwesenheit.


Seine Waden brannten und hätten sie eine Stimme besessen, sie hätten laut tönend in die Welt hinaus geschrien. Es war kein Grund langsamer zu werden. Der Mann hatte kein klares Ziel vor Augen. Die letzten Wochen hatten ihn erschöpft und nach seinem Verständnis besaß er nur diese eine Chance, die er nicht vertan wissen wollte. Ohne Vorstellung von dem Ort, dem er entgegen strebte, rannte er weiter. Er musste Abstand aufbauen, Distanz schaffen, seinen Vorteil aufrecht erhalten. Seine Stiefelspitze verfing sich in etwas und Levi strauchelte. Er verlor den Halt unter seinen Füßen, fiel, sah sich schweben und landete dann mit dem Gesicht voran im Schnee. Es knackte unschön, als Nase, Wangen, Stirn und Kinn den gefrorenen Grund durchbrachen und der ganze Kerl sich halb überschlug, ehe er auf der Seite liegen blieb. Für den Moment gefällt und unfähig sich gleich wieder auf die Beine zu bringen, stachen Kälte und Schmerz scharf durch seine Wahrnehmung. Der Mann schluckte schwer. Uneins mit sich und der jüngsten Vergangenheit, die ihn bis zu diesem Punkt innerhalb seiner eigenen Geschichte gebracht hatte, spuckte er Schnee und Blut zu ungleichen Teilen aus. Ein unwilliges Brummen bildete sich in seiner Kehle, während der Iorga sich auf den Bauch drehte und seinen Händen dabei zusah, wie sie tief im hellen Schnee versanken. Es knirschte vertraut in seinen Ohren. Ein Geräusch, das ihm eigentlich gefiel, versprach es doch angenehme Erinnerungen an vergangene Tage, die zwar viele Entbehrungen bereit gehalten hatten, darüber hinaus aber auch viele Freuden, die er heute zuweilen missen musste.


Törichte Gedanken eines törichten Mannes. Levi schrie auf, als jemand ihn an seinem Bein packte und mit einem gewaltigen Ruck zurück auf den Boden der Tatsachen schleuderte. Reflexartig versuchte der blonde Riese sich gleich darauf noch einmal zurück in den Stand zu bringen. Er schob seine Arme unter seine Brust und gerade als er sich hoch stemmen wollte, schlug etwas hart in sein Kreuz ein. Stöhnend ging er ein weiteres Mal in dem gefrorenen Meer unter.


Lange Gelenke knackten unschön, als ihr Besitzer seine Finger haltsuchend in den Schnee grub. Seine Griffe wurden immer verzweifelter, während der Kopf längst begriffen hatte, dass keine versteckte Wurzel, kein rettendes Seil unter der weißen Decke darauf wartete ergriffen zu werden. Frustration hallte in den klaren Tag hinaus, entsprang der Kehle des Mannes, in dessen Bein sich die Kiefer eines Frostwurmes geschlagen hatten. Eine unverkennbare Spur im Schnee hinterlassend, nahm der Jäger seine Beute mit sich. Ein Fisch am Haken, der sich winden und sträuben konnte wie er wollte, ohne dass seine Bemühungen Früchte getragen hätten. Levis Kehle entkam der unwillige Laut eines Mannes, der verstand, dass er machtlos einer Situation gegenüber stand, aus der ihn niemand retten würde. Ein letztes Mal begehrte er auf, ehe der Wurm im Boden verschwand und den Iorga mit sich in die Tiefe hinab zog.

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