Besuch

That’s the thing about spies. Most of the secrets we keep are from each other.
Ally Carter



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1333 n.E.



Die Taube saß schon den halben Tag dort. Die Wirte hielten sie ohne Zweifel für einen verwirrten Kurier, einige hatten versucht sie mit Gefuchtel und ‚Schu! Schuuu!‘ davonzuscheuchen. Doch das Tier thronte unbeeindruckt hoch oben auf der Ranke über dem Tresen, wo es den perfekten Überblick über den gesamten Schankraum hatte. Für die rufenden Sylvari hatte es nur einen kühlen Blick übrig, und so ging die Sorge weiter, dass gleich Vogeldreck in der Suppe des nächsten Gasts landete.


Ja. Die fehlende Scheiße war verflammt verräterisch. Aber das schien niemandem aufzufallen.


Carcair fühlte selten Nervosität. Aber er fühlte umso deutlicher die schwarzen Knopfaugen des Vogels auf seinem Rücken, seit Stunden, starr, bohrend, ausdruckslos. Er mochte das Gefühl nicht.


Der Abend verlief wie jeder andere. Vielleicht servierte Carcair ein paar der Nachtschwärmer zu forsch ab, doch seine Geduld war nach einem Arbeitstag zwischen schmatzenden Setzlingen und hysterischen Köchen erschöpft. Er rieb sich über die Stirn und hypnotisierte den Rücken des letzten Gasts unerbittlich, bis dieser endlich – unerträglich langsam, un-er-träglich, rückwärtsgehend wäre es sicher schneller gegangen – den Schankraum verlassen hatte. Kaum, dass er außer Hörweite war, fragte er: „Was willst du?“


Stille. Die Taube saß immer noch an exakt derselben Stelle, da bestand kein Zweifel für Carcair. Vielleicht einen Hauch, einen winzig kleinen Hauch entnervt ließ er die Arme auf den Tisch fallen. „Liadain. Beweg deinen Arsch hier runter und sag mir, was du willst.“


Der Vogel antwortete nicht, allerdings hörte Carcair ‚etwas‘. Vielleicht Stoff. Dann das Rascheln von Federn, und er blinzelte, als die Taube auf seiner Hand landete. Carcair hob den Arm und betrachtete sie. Schönes Tier, ohne Zweifel, vielleicht etwas zu schneeweiß, aber Eitelkeit war schon immer die größte Schwäche seines Besuchers gewesen.


„Du hast das Blinzeln eingebaut.“ Er betrachtete die Taube einige Momente schweigend. „Sieht gut aus. Ich hab dir gesagt, das macht ’nen Unterschied. Aber das Fliegen… mmmh… Zu kompliziert, was?“


Die Taube kommentierte das nicht, wandte den Kopf in dieser vogeltypischen, eckigen Bewegung und starrte Carcair mit ihren seelenlosen, runden, schwarzen Augen an. Seufzend fuhr er fort: „Weißt du, wie leicht ich dir gerade diesen dünnen Hals umdrehen könnte?“


„Du weißt, dass das so nicht funktioniert.“


Die Stimme ging nicht von der Taube aus. Carcair hob eine bekrallte Hand neben den Vogel. Keine Reaktion. Ein weiteres Blinzeln mit dem durchscheinenden Augenlid. „Na dann gibt es ja keinen Grund, dich nicht zu würgen!“


Zumindest würde die Ablenkung reichen, um… Und tatsächlich traf er etwas, als er nach hinten trat. Ein Schienbein vermutlich, nur ein Schienbein, aber immerhin! Und das wiederum lenkte den Besitzer des Schienbeins genug ab, dass Carcair seine Hand umdrehen und die Taube auf den Tresen klatschen konnte, wo sie in einer Mischung aus Federn und zarten rosa Schlieren zersplitterte.


Hinter ihm erklang ein beinahe erfolgreich zurückgehaltenes, sehr resigniertes Seufzen. „Was auch immer du daraus für eine Befriedigung gezogen hast, ich hoffe sie war es wert, dass du keine Deckung mehr hast.“


Carcair drehte sich um. Seine Augen suchten erfolglos den leeren Gang hinter dem Tresen ab. „Das war meine Deckung? Dass ich mich mit einer Taube unterhalte?“


„Liegt das außerhalb von dem, was deine Kollegen dir zutrauen würden?“ Touché.


Carcair runzelte die Stirn und sah mahnend dorthin, wo er die Augen seines Gegenübers vermutete. Er meinte die Ränder zu sehen, an denen die Illusion endete und die Realität wieder galt. Das war einer der Gründe, warum er seine Art der Magie vorzog. Sie war echt, basierend auf Fähigkeit und Können; das hier war eine Lüge.


Zugegeben eine geschickte und nützliche Lüge.


„Also gut. Du hattest deine schnippischen Kommentare, ich konnte dich treten. Jetzt sag mir, was du hier machst.“ Zwar sprachen beide längst in gedeckter Stimmlage – auch wenn Carcair sich sicher war, dass der andere Sylvari gut überprüft hatte, ob sich noch jemand in der Nähe herumtrieb –, dennoch er senkte seine Stimme noch weiter. „Wir wissen beide, dass du nicht gerne in den Hain kommst.“


„Ich erinnere mich an eine Zeit, da hast du den Hain verabscheut wie kein Zweiter.“ Die Stimme erklang von einem neuen Ort, mehr neben Carcair. Vermutlich hatte es seinem Besucher nicht gefallen, wie gut er seine Position hatte schätzen können.


„Ein ziemlich riskanter Weg, über alte Zeiten zu reden, findest du nicht?“ Carcair trommelte mit den Fingern auf den Tresen, eine mehr oder weniger subtile Art Ungeduld zu demonstrieren. Es war hier immerhin sein Ruf im Hain, der auf dem Spiel stand.


„Du hast dein Haus mit blutrünstigen Bestien und aggressiven Pflanzen gefüllt. Ich hätte mich sonst eingeladen.“


Mh. Blieb zu hoffen, dass Carcair keine Raptor-Leiche fand, wenn er nach Hause kam.


„Ein Jammer.“ Carcair stieß sich von der Theke ab und ging zum Spülbecken, seinem Todfeind. Wenn er schon hier herumstand und mit der Luft sprach, konnte er für vorbeiziehende Nachtblüten zumindest einen optisch unauffälligen Eindruck machen. Naserümpfend begann er an einem Blütenkelch herumzuputzen. „Du schindest Zeit, also willst du mich aushorchen. Sag mir was los ist, oder ich beginne auf alle Tauben zu schießen, die sich hier blicken lassen.“


„Du hasst diese Arbeit“, stellte die Stimme hinter ihm in weicher Tonlage fest. „Es ergibt keinen Sinn, dass du deine ganze Zeit hier verbringst.“ Ah, da war es, das eigentliche Problem. Seine Analyse von Carcairs Persönlichkeit stimmte nicht mit Carcairs Verhalten überein. Kein Wunder, dass er so völlig außer sich war. „Ich meine mich zu erinnern, es ist nicht lange her – vielleicht für dich, aber nicht für mich –, als du wieder zu viel Nachtschatten getrunken hattest… und mich batst…“


Carcair seuftze ärgerlich und betrachtete das Wasser an seinen Klauen. Ugh. Keine Tarnung der Welt was das wert. Die Speichelreste anderer Leute wegwischen. Er schnappte sich ein (unnötigerweise) frisches Tuch und begann das Glas trockenzuwischen (und das würde er die nächsten fünfzehn Minuten durchhalten, wenn es sein musste).


„Du willst also wissen, warum ich so viel Zeit im Hain verbringe mit dieser Arbeit, die… mh…“


„… die deinen Fähigkeiten nicht gerecht wird“, schaltete der andere Sylvari sich in scharfem Tonfall ein. „Mir ist es egal, womit du deine Zeit verbringst. Aber es ist sinnlos, mir zu sagen, dass das hier –“ Carcair konnte seine gekräuselte Oberlippe förmlich sehen. „– dich fordert.“


„Meine letzte Mission war dir also nicht tödlich genug?“


Sein Besucher war wieder einige Schritte näher gerückt - nicht, dass man davon etwas gehört hätte. „Wir sprechen nicht von den letzten Wochen. Wir sprechen von den letzten Monaten. Dem letzten Jahr.“


Es war wirklich, wirklich eine verflammte Herausforderung die Worte ‚Du bist eifersüchtig?‘ ungesagt herunterzuschlucken. Es mochte der normalste Carcair-Kommentar der Welt sein (und sein wir ehrlich, diese Karte hatte er gegenüber seinem persönlichen Schatten schon mindestens fünfzig Mal gezogen), doch die Antwort wäre gewesen ‚Habe ich denn Grund dazu?‘ – ganz bestimmt – und auch wenn Carcair sicher eine überaus schlagfertige und geistreiche Riposte zur Hand gehabt hätte – die sich derzeit noch in den Tiefen seines Gehirns versteckte, aber hoffentlich ans Tageslicht treten würde, sobald er sie benötigte – so war selbst durch diesen banalen Scherz das Risiko zu groß, den Sylvari auf falsche Ideen zu bringen.


Nicht sagen. Nicht. Carcair, nicht.


Obwohl er definitiv eifersüchtig war, dass Carcair ihn so vernachlässigte.


„Weißt du was ich glaube?“ Er drehte sich um und grinste breit. Der Gang hinter ihm war immer noch leer, aber anhand der Stimme vermutete er den Sylvari zu seiner Linken. „Ich bin einfach alt geworden. Ich bin so… langweilig, weißt du? Ich habe ein Haus, kümmere mich um meine Pflanzen… ziehe meinen Raptor auf… lehre Setzlinge… Wie lange war ich schon nicht mehr in diesem Drecksloch Götterfels? In einer heruntergekommenen Löwensteiner Taverne? Weißt du wie viele Partner ich im letzten Jahr hatte? Man kann sie sicher an zwei Händen abzählen! Ich bin mit niemandem hier aneinandergeraten, keine Erregung öffentlichen Ärgernisses, ich bin sicher, sie verpassen mir bald einen Orden für den bravsten Ehrenbürger des Hains!“


Eine Sekunde Stille, dann das mit eisiger, ehrlicher, uneingeschränkter Verachtung gesprochene „Widerwärtig.“ Carcair ging vor seinem inneren Auge ein paar Vorschläge für Gesichter durch, die sein Gast gerade zog. Jedes einzelne war höchst amüsant.


„Du hast das doch auch schon durchgemacht. Oder bist du nicht so uralt wie du immer behauptest?“


Etwas bewegte sich. Der Glamour-Zauber ließ nicht nach, aber wenn man wusste, wo der Mesmer sich aufhielt, konnte man leichte Fehler bei der Projektion des Lichts erkennen, als würde man durch ein Mosaik von Glasscherben sehen, von denen manche einen Grad anders ausgerichtet waren als ihre Nachbarn.


Er sah keine Gestalt, er hörte keinen Stoff, aber er wusste, dass der Sylvari jetzt direkt vor ihm stand.


„Du hast recht. Ich habe alles durchgemacht, was du in deinem kurzen Leben erfahren hast.“ Es war unterhaltsam. Das war seine Art, eine freundschaftliche Unterhaltung zu führen. Und es klang wie eine Drohung. Es war eine Drohung. Er hatte nicht gelernt, anders mit Verbündeten zu sprechen. Es fiel deutlicher auf, wenn man einige Jahre unter Träumern verbracht hatte statt unter seelisch zerstörten Mördern. „Und deswegen weiß ich, dass das ausgema-“


„Hast du nicht.“


Der Mesmer atmete langsam, konzentriert, leise aus. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Gut, er hasste viele Dinge, aber Respektlosigkeit war ein heißer Kandidat für den ersten Platz.


„Habe ich. Ich weiß -“


„Hast du nicht. Glaub mir, Liadain, du hast nicht durchgemacht, was ich durchgemacht habe. Warst du jemals auf einer Mission mit Leuten, die alles daransetzen, sich selbst in die Luft zu jagen? Warst du jemals gezwungen, eine falsche Beziehung für mehr als zwei Monate durchzuhalten? Und zwar ei-“


Carcair brauchte seine Empathie nicht, um zu wissen, wie groß das Bedürfnis seines Schattens war, jetzt zu Gewalt zu greifen. Nicht um Carcair mit den eigenen Händen zu erwürgen, sondern nur für eine kleine Lektion, eine kleine, sehr sehr schmerzhafte Lektion. Er hielt diese Neigungen für plump, und deswegen ließ er sie nicht zu, aber Carcair kannte ihn lange genug – hin und wieder sogar inklusive Empathie – um zu wissen, wie unwiderstehlich stark diese Anwandlung werden konnte.


„DU –“ Das war etwas zu laut geraten, auch das passierte ihm nicht allzu oft, und so korrigierte er seine gereizt-gespannte Stimmlage nach unten. „– bist wie ich. Leute wie wir ändern sich nicht. Die Frage ist nur: Warum verreckt deine Seele nicht in diesem schwülen, stinkenden, schmutzigen Sumpf von einer... Stadt?“


„Du wärst erstaunt, womit man sich hier unterhalten kann, Liadain.“


„Dann sag mir womit.“ Und schon war die Stimme wieder lieblich... aber die blutdürstige Schärfe verlor sie nicht.


Carcairs Mundwinkel hoben sich, während er die unsichtbare, aber sehr sicher köstlich finstre pflanzliche Mimik vor sich betrachtete. „So direkt hast du mir selten gesagt, was du willst.“


Ironischerweise schien diese Provokation den Sylvari gelassener zu stimmen. Also, nicht auf eine friedliche Weise. Aber auf die Weise, dass er einen Schritt zurücktrat und seine Stimme diese Vibration unterdrückter Aggression verlor. „Es gibt nur eines, was dich im Leben interessiert, Carcair. Und du kennst nur zwei Möglichkeiten, das zu erreichen.“ Kunstpause. „Hier riegst du nichts davon.“


So ähnlich sie sich manchmal waren, ein paar Unterschiede zwischen ihnen blieben unüberwindbar. Das hatte Carcair schon in Orr verstanden. Sein Gegenüber nicht.


„Liadain“, sagte Carcair honigsüß und drückte den Kelch in seiner Hand gegen dessen durchsichtige Brust (oder wovon er annahm, dass es irgendein Stück Rumpf war). Er verließ sich darauf, dass der Besucher nicht mit einem auf dem Boden zersplitternden Kelch neugierige Beobachter anlocken wollte. „Ich geb dir einen gut gemeinten Rat: Hör auf, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln. Du könntest dich langweilen. Außerdem: Du bist über alles informiert, was auch nur halbwegs interessant ist.“


„Bin ich?“ Der Kelch, der teilweise hinter den unsichtbaren Lichtscherben verschwand, landete geräuschlos auf dem Tresen.


„Dafür sorgst du schon.“


Schweigen. Mh. Ja. Das hatte er nicht geschluckt. Mist.


„Es gibt also nichts, was du mir sagen möchtest, Carcair?“


Das Problem: Sein Schatten hatte recht. Mit all seinen Argumenten. Nur: Wenn Carcair keine Antwort auf die Frage hatte, wie sollte er dann eine überzeugende Antwort zusammenlügen? Ja, Ehrlichkeit war eine Option. In der Theorie. Tatsächlich war er ehrlich! Aber dieser Sylvari würde ihm diese Wahrheit nicht abnehmen.


„Gönn mir doch ein wenig Ruhe, Liadain. Wann bist du das letzte Mal fast in der Wüste verreckt, he?“ Carcair schloss die Kasse ab und packte die wertvollen Materialien im Regal ein. „Im Alter lernt man seine Energie einzuteilen, das musst du doch am besten wissen. Als Setzling hätte ich allen Mist mitgemacht, ja… Aber die Zeiten sind vorbei. Schon lange. Ich stehe immer zur Verfügung, niemand außer dir zweifelt daran.“


„Niemand außer mir durchschaut dich.“ Nun, von irgendwem musste Carcair seine eigene Überheblichkeit ja geerbt haben. „Allerdings...“


Eine weitere Kunstpause, bevor der Sylvari fortfuhr. „Ich fürchte, du büßt hier ein, was ich in dir gesehen habe, Carcair. Der Hain macht jeden in seinen Fängen weich, bequem, träge… Es ist fast traurig mitanzusehen. All die harte Arbeit, die ich in dich gesteckt habe. Verschwendet.“


Carcair schnaufte amüsiert. Die ganze Provokation büßte dadurch ihre Schärfe ein, dass sein Schatten nicht einmal wusste, wie Trauer sich anfühlte. Im Höchstfall hatte er eine blasse Erinnerung daran. Was ihn eigentlich plagte: Frustration wegen Kontrollverlust. Das einzige relevante schlechte Gefühl auf dieser Welt.


Er hörte etwas, gedämpfte Schritte wohl, als der Sylvari um den Tresen herum ging. Mit der Kasse in der Hand drehte Carcair sich noch einmal grinsend um. „Schönen Tag, Liadain. Und du weißt, wenn dich die Sehnsucht nach mir überkommt, kannst du mir einfach eine Nachricht schicken. Du musst dich nicht in irgendwelchen Büschen verstecken und mich heimlich zu beobachten. Wir könnten uns unterhalten, oder schlagen, wie normale Leute.“


Sein Besucher hielt es nicht für nötig, auf die Provokation einzugehen. Vielleicht war er schon gegangen, bevor Carcair gesprochen hatte; vielleicht stand er noch da und fixierte Carcair; vielleicht würde er ihn die gesamte Nacht über beobachten, wie man es eben unter Freunden tat.


Ganz egal, was zutraf: Carcair hatte ein Problem.





Wenn etwas an dieser Geschichte unlogisch wirkt, ist es vermutlich die Mesmermagie des Besuchers :P Die ist aber gründlich durchdacht und loretreu, ich versprech's!