Drachenfänge und Rabenprüfungen

Sie eilte den Dreien nach, als sie überstürzt dem Licht in Rabengestalt folgten. Im Rücken hörte sie noch den Ruf der Schamanin, sie sollten warten. Hin und hergerissen lief sie in die drückende Dunkelheit, um die erste Biegung herum. Sie kam ins Stocken. Ganz sicher war sie sich gewesen, dass das Licht des Raben in diese Richtung geflogen war. Ganz sicher war sie sich gewesen, dass drei ihrer Begleiter in diese Richtung gelaufen waren. Blinzelnd wurden ihre Schritte langsamer, bis sie das erste Mal stehen blieb.


„Nas? … Fraja? … Lilja, Lokke! HE!“


Nach und nach wurde sie sich der Dunkelheit bewusst. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte irgendetwas zu erkennen. Vergebens. Außer dem sanften Lichtschein des hervorgerufenen Raben sah sie nichts. Sie hörte nichts. Wobei… doch. Da waren Stimmen. Ein Gewirr an verschiedenen Stimmen drang an ihr Ohr, von der sich eine einzige herauskristallisierte.


„Zweiflerin! … Verschwinde!“


Sie zuckte zusammen. Hastig wanderte der Blick umher, kurzzeitig in der Hoffnung, doch etwas zu entdecken. Doch da war nichts. Sie drehte sich um sich selbst, schüttelte den Kopf und rannte los. Das Licht des Raben war hinter einer Biegung verschwunden. Nur noch ein Schimmer war auszumachen. Sie rannte und rannte, passierte ein Rabentotem. Es leuchtete schwach. Fast, als hätte das Rabenlicht ein wenig seiner Magie auf die Statue abgegeben. Fast, als wolle der Rabengeist ihr den Weg leuchten.


„Nein! Du lügst! Ich habe NIE gezweifelt! NIEMALS!“


Ihre Stimme hatte keinen Hall. Kein Echo. Ihr war es, als würden ihre Worte von der beklemmenden Dunkelheit aufgesogen. Sie war keine Zweiflerin. Ihr Glaube und ihr Vertrauen in die Geister war unerschütterlich. Sie zweifelte nicht an ihrer Entscheidung. Im Gegenteil. Die Aufgabe, die die Rabenstatue einem jeden von ihnen gestellt hatte, war ihr fast bekannt vorgekommen.


„Komm … komm zu mir. Du hast mich schon einmal gefühlt ...“


Ihre Schritte wurden erneut langsamer, bis sie das zweite Mal stehen blieb. Da war er. Jormag. Vehement schüttelte sie den Kopf. Sie schüttelte sich im Gesamten, denn das Gefühl von einst, als die verdorbene Kugel versucht hatte ihre Gedanken zu vergiften, war präsent wie zu jenem Zeitpunkt. Doch etwas war seltsam. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob die Stimme in ihren Gedanken männlich oder weiblich war. Monennia atmete langgezogen aus.


„Habe ich! Aber ich werde dir nicht folgen! Mein Bruder ist Wolf!“



Vafthrúdnir sah sie interessiert an, während er auf eine Antwort wartete.
„Angenommen, du müsstest entscheiden: Einen lieben Freund zu retten oder eine ganze handvoll anderer Norn. Wie würdest du entscheiden? Bedenke gut.“
Sie saßen beieinander in Mitten des Wolfsrudels.
„Inwiefern ein lieber Freund?“
„Nicht dein Kerl. Ein lieber und treuer Gefährte, der Jahre an deiner Seite war.“
„Und die anderen Norn? Sind sie mir unbekannt? Kann ich mit den beiden Fraktionen sprechen?“
„Dir unbekannt, aber freundlich gesinnt. Und nein.“
Ihre Lippen pressten sich aufeinander, der Blick ruhte nachdenklich auf dem Krug in ihren Händen.
„Ich weiß es nicht, Vaf.“



„Denke an deine Familie … Du kannst sie mit mir schützen.“


Sie wirbelte herum, als sie an der Schulter berührt wurde. Ihre Gedanken spielten ihr einen Streich. Rückwärts ging sie einige Schritte, immer dem blasser werdenden Lichtschimmer hinterher. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Die Augen verengt. Doch auch damit konnte sie nichts ausmachen. Wieder schüttelte sie den Kopf, senkte ihre Stimme.


„Ich denke immer an sie. Ich schütze sie. Ohne dich. Mein Rudel ist stark! Ohne dich!“


Dann rannte sie weiter.



„Wenn ich an einer Klippe stehe und an einem Seil halte ich einen Freund, während am Anderen eine Gruppe hängt … In so einer Situation entscheidet man nach bestem Wissen und Gewissen. Man wägt in Bruchteilen eines Augenblickes ab und schmiedet keine Pläne. Hätte ich dafür die Zeit, müsste ich nicht wählen.“



Sie hatte ihre Entscheidungen getroffen.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 6

  • Schön geschrieben und sehr interessant, dass du noch eigene "Rätsel" und Zitate mit eingebaut hast :D Gefällt mir sehr gut!

    • Das Ganze hat mich zu sehr an diese IC Situation von vor ein paar Jahren erinnert. Sowas kann man sich doch nicht entgehen lassen! ^^ Es war ein spannender Abend. Danke Dir!

  • Gefällt mir. Allgemein der Einfluss des Geflüster auf alle Charakter in dem Plot ist atemberaubend. Und gerade der letzte Satz ist einfach so klar und dennoch sagt es nichts was als nächstes paasieren mag.

    • Danke für Deine Worte. Mir macht es auch großen Spaß, die Geschichten der Anderen zu verfolgen.

  • Eine packende Geschichte.
    Ich kann mit gar vorstellen wie Nia durch das Rabengewölbe irrt.
    Nicht zweifelnd sondern... Ich weiß nicht.
    Der Abschnitt mit Vafs Frage ist sehr berührend.

    • Vielen Dank für Deine Worte. Ich glaube, das Sanktum hat aus vielen Charakteren einige Dinge hervorgekitzelt. Und der Flashback mit Vaf hat mich gestern schon schmunzeln lassen. Da musste ich es einfach niederschreiben. :)