Acht Jahre


„Das geht dich gar nix an, Iida! Du bist nich‘ meine Ma!“


Der Junge mit dem kohlrabenschwarzen Haar brüllt die Worte der hochgewachsenen Norn entgegen. Um seine Wut noch zu unterstreichen, pfeffert er ihr das Bündel in seinen Händen entgegen und zeigt ihr den Mittelfinger. Resignierend ist das Schnaufen, als der 14 – Jährige sich umdreht und in den Wald davon rennt. Sie weiß, dass er zum Wolfsfelsen läuft. Sie folgt ihm nicht.


„Was war schon wieder?“ ertönt eine dünne Stimme hinter der älteren Schwester. Als sie sich umdreht, steht dort die Jüngste der Sippe. Die roten Locken sind zu einem Zopf gebändigt. Ihr Blick geht von der großen Schwester in den Wald, wo sie ihren Bruder noch schemenhaft rennen sieht.


„Ich weiß es nicht, Sóla.“


„Er verbringt viel Zeit am Felsen,“ erklärt das Mädchen, klettert auf den Zaun vor der Hütte und setzt sich auf den obersten Balken. „Aber er redet nicht mit mir. Fierena sagt, weil ich Ma so ähnlich sehe.“ Seufzend senkt sie den Kopf, beginnt mit den Fingern am Saum ihres Kleides zu nesteln.


„Deine Erinnerung an Ma und Pa verblasst,“ schließt die Ältere daraus, nickt sacht. „Das passiert, wenn so viel Zeit vergangen ist. Ich kann verstehen, wie es dir geht. Ich kenne es.“


„Es sind jetzt acht Jahre.“ Das Mädchen schluckt schwer, nickt und stützt dann die Ellbogen auf die Knie. Das Kinn wird in den Händen gebettet.


Iida nickt sacht und steigt über den Zaun, um sich neben die jüngere Schwester zu setzen. Der Arm wird um das Mädchen gelegt und sie drückt ihr einen Kuss auf den Schopf. „Sag, wie klappt es eigentlich mit der Schamanen und Geistersache?“


Erneut seufzt Sóla und jetzt fallen doch die ersten Tropfen auf das hellgrüne Kleid. Dunkle Flecken sind Zeuge davon, dass sie weint. „Pa und Ma wollten mit mir zu den Schamanen gehen, wenn sie wieder da sind. Aber sie sind ja nie zurück gekommen...“





Ruckartig schlägt sie die Augen auf. Ihr Atem geht rasch und sie braucht einen Moment, bis sie sich im Dunkel soweit orientiert hat, um zu wissen, dass das was sie eben gesehen hat nicht wahr sein kann. Sie schluckt. Presst die Lippen aufeinander. Dann setzt sie sich auf. Der Blick wandert durch den Schlafsaal. Es dämmert noch nicht einmal, so früh hat der Traum sie aus dem Schlaf gerissen. Ein tiefer Atemzug folgt und eine ganze Weile bettet sie ihr Gesicht in den Händen. Sie sieht die Bilder noch immer vor Augen. Sieht ihre Kinder, wie sie älter geworden sind. Wie sie beginnen, zu vergessen, wer sie ist. Wie sie aussieht. Was aus ihnen geworden ist, erschreckt sie mehr als sie es sich eingestehen will. Ein Schluchzen bricht aus ihrer Kehle heraus. Es klingt unwahrscheinlich laut in der Stille des Schlafraumes. Rasch presst sie die Lippen aufeinander, erhebt sich.
Lange dauert es nicht, bis sie sich ihre Kleidung übergeworfen hat und aus dem Saal eilt. Vorbei an Schlafenden, hinaus in die Kälte. Hinauf auf den Wehrgang. Du suchst dir immer den höchsten Platz. Die Worte des Legendenkoches vom Vortag sind gerade kein Trost. Der Gedanke daran bringt sie heute nicht zum Schmunzeln. Und doch ist etwas Wahres daran. Der Sylvari hatte offensichtlich schon oft mit dem Gedanken gespielt und sie beginnt den Aufstieg nun. Finger und Zehen finden Halt in den Fugen und Zwischenräumen der Mauer, als sie zum höchsten Punkt der Festung klettert.


Dort oben, nahe der glimmenden Rabenstatue, fällt sie auf den kalten Stein. Das grüne Wolltuch, das um ihren Körper geschlungen ist bekommt dunkle Flecken, als sie der Sehnsucht nachgibt. Zum ersten Mal wird sie vom Heimweh eingeholt.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 6