Ein Teil von Allem

Ein Teil von Allem



Sie hatte ja wirklich vorgehabt, es bei einem einfachen kurzen Spaziergang zu belassen. Nur eine Runde durch die Feste, damit die Knochen und Gelenke nicht zu rosten begannen. Es war nicht so, als hätte sie geplant sich ablenken zu lassen.


Nicht geplant, gewünscht.


Ihr Blick glitt über den am Boden liegenden Schnee. Dieses Mal hatte sie den Mantel tatsächlich vergessen und ausnahmsweise bereute sie es sogar. Ein bisschen. Nicht wirklich. Die Wahrheit ist, du willst krank werden. Du willst verletzt werden. Wenn du erst wirklich krank oder verletzt bist, haben sie einen Grund dich heim zu schicken. Du kannst protestieren, gibst dann nach und darfst nach Hause.


Sie wollte nicht krank werden! Sie wollte sich nicht verletzen oder überarbeiten! Marena ballte die Hände zu Fäusten. Das war nicht der Grund warum sie spazieren ging. Das war auch nicht der Grund warum sie stehen geblieben war und begonnen hatte aus Schnee kleine Kugeln von Apfelgröße zu formen und sie mit Magie gegen die Felswand vor sich zu schleudern, bis sie zerstoben und der Schnee am dunklen Stein kleben blieb.


Willst du nicht nach Hause?


Oh und wie sie nach Hause wollte. Nach Hause zu Lineth, zu Vaegir, zu Cyraine, zu Vitus, zu Fanny und Ann und zu ihrer Arbeit. Sie wollte so dringend nach Hause, dass es schwer war nicht einfach per Fuß den langen Weg auf sich zu nehmen. Einfach heim laufen... Vielleicht über die Gebiete der Charr. Dort würde eine Patrouille sie aufschnappen, sie würde behaupten sich verirrt zu haben, würde ihren Namen nennen, dann würde man Kryta benachrichtigen und sie heim holen. Was waren drei Tage als Gefangene der Charr mit einer Sonderstellung wegen der eigenen politischen Position gegen Wochen hier oben im Norden. Lieber eine Gefangene der Charr, als weiter hier in einer Gruppe zu leben in der dich alle aufgrund von Lügen hassen, die jemand erzählt hat, der dich bei eurem letzten Treffen noch Freundin nannte. Geh. Dich hält hier nichts.


Nein. Nein, nein, nein.
Noch ein Schneeball und noch einer und noch einer.
Sie weigerte sich das zu akzeptieren. Sie weigerte sich, wegen dieser Lügen einfach zu kneifen und einfach zu gehen.


Du wirst hier draußen sterben.


Und wenn schon.


Sie werden dich zurück lassen.


Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die schwebende Schneemasse vor ihr wurde nicht zu einem kleinen fluffigen Ball, sondern so fest zusammengepresst, dass man fast meinen könnte, sie habe vor aus dem Schnee Waffen zu formen. Ihren Lippen entrang ein ärgerliches Fauchen. Warum war eigentlich alles immer ihre Schuld?


Warum musste sie jetzt nach über einem Jahr dafür büßen, dass sie auf einer ganz anderen Reise ihr möglichstes gegeben hatte, um ihre Gruppenmitglieder am Leben zu halten. Warum wurde es ihr angelastet, wenn die Lehrer Anderer versagten? Sie hatte nie jemandem beibringen wollen, was es hieß Soldat zu sein! Geschweige denn hatte sie eine Frau unter ihre Fittiche genommen und sie zur Söldnerin ausbilden wollen. Sie hatte einfach nur mit Freunden verreisen wollen. Und dann hatte man ihr mehr und mehr Gruppenmitglieder aufgeschwatzt, hatte ihr gesagt, sie habe die Verantwortung. Die Verantwortung über eine Reisegruppe deren Mitglieder sie nicht kannte. Deren Mitglieder lieber irgendwelche albernen Streiche spielten, die um Hilfe riefen, nur des Spaßes halber, um sich zu amüsieren, obwohl es keinen Grund gab um Hilfe zu rufen. Wer war sie denn, dass man ihr dann schlechte Laune vorwerfen konnte? Sie hatte alle gleich behandelt. Wer Mist gebaut hatte, der hatte eben Ärger bekommen. Wer etwas gut gemacht hatte, der war gelobt worden. War es ihre Schuld, wenn Ausbilder, die die Verantwortung für ihre Auszubildenden hatten versagten? Nein. Ganz sicher nicht. Sie hatte es nur ausbügeln müssen!


Und dennoch... bist du diejenige, die für das Versagen anderer zahlt. Nicht, dass das etwas neues wäre. Warum lässt du dir das noch gefallen?


Das sie nicht sonderlich empathisch war, das wusste Marena. Sie ließ das steinharte Schneegeschoss fallen und sich gleich mit. Dumpf halte der Schmerz in der Rippengegend nach, aber die blauen Flecken vom Vortag heilten dank der Magie gut ab. Es war ja meist nicht einmal so, dass sie die Gefühle ihrer Mitmenschen nicht verstanden hätte. Sie verstand durchaus, dass man sich nicht gut fühlte, wenn man Angst hatte und dann auch noch mit knappen Befehlen auf Linie gehalten wurde. Natürlich war das kein schönes Gefühl. Aber besser das, als tot sein.


Du kannst nicht Heiler, Krieger und Anführer zugleich sein. Wenn du schon den Anderen nie genug sein kannst, warum bist du dir dann nie selbst genug? Es ist egal was sie denken. Bald bist du wieder in der Stadt.


Lieber wütend als tot. Sie wiederholte den Satz einmal, dann ein weiteres mal, blinzelte gegen den scharfen Wind und die aufsteigende Panik. Lieber wütend, lieber wütend, lieber du bist wütend. Und du hast recht. Deine "Freundin" ist dir in den Rücken gefallen. Deine "Freundin" hat dich verraten und dich vor allen bloß gestellt. Dabei hast du dir Mühe gegeben. Du wolltest dieses Mal, wo nicht du für alle Leben verantwortlich bist, wo du nur Befehlen gehorchen musst, anstatt sie zu geben, dieses Mal, wo du es darfst, es dir leisten kannst, so sein wie du gerne wärst. Nett und verständnisvoll.


Sie war nicht wütend. Sie war müde. Sie war so furchtbar müde, war es leid darüber nachzudenken, noch einmal über all die Dinge nachzudenken, an die sie denken sollte und müsste. Nein, natürlich wollte sie nicht harsch und kalt sein. Sie war es, weil sie es sein musste.


Niemand ist von sich aus abgrundtief böse. Du bist wie dieses Land. Du versteckst dich unter dieser Eisbarriere. Versteckst alles darunter, weil du das Gewicht der marschierenden Gefahr sonst nicht tragen könntest.


Konnte sie das? Diese Last weiter tragen? Die Last hier vollkommen allein zu sein? Allein unter Fremden, denen du egal bist. Unter Fremden, denen sie egal war, solange sie nicht als Ratsherrin irgendetwas für sie erledigen konnte? Oder als Rurikpatorinin. Oder als Heilerin. Sie war doch sowieso nie gut genug. Egal in welcher Position. Du hast hier niemanden mehr. Es war ertragbar, als du noch dachtest du hättest hier eine Freundin. Es war ertragbar gewesen, als sie geglaubt hatte sie könnte zumindest mit allen im Lager gut auskommen. Als sie noch geglaubt hatte das sie jemanden kannte und sich mit dieser Person verstand. Und dann hat sie diese Dinge behauptet vor allen. Sie hat vor allen gelogen. Sie hasst dich. Hass war ein starkes Wort. Hass war zu präzise. Du willst es nicht glauben, weil du hoffst, dass du dich irrst. Aber du weißt es besser. Du hast hier niemanden. Nein, aber hier gab es so viele. So viele Andere! Es gab Andere, die ihr zuhören würden. Die ihre Fähigkeiten mehr schätzten als unwahre Behauptungen. Es gab viele Unbekannte. Reden kannst du mit niemandem. Du bist allein hier. Und daran wird sich nichts mehr ändern.


Sie war allein. Sie war so allein, wie sie sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Es würde sich nichts an der Situation ändern, weil es nichts mehr zu ändern gab. Die Worte waren ausgesprochen, dass sie nicht wahr waren, änderte nichts daran, dass ihr sowieso niemand glauben würde.


Du gehörst nicht in die Feste. Du gehörst nach draußen. Dort wirst du Zuhause sein.


Ihre Gedanken wanden sich um die Worte. Wasser sein, Eis sein. Wie lange hatte sie sich nicht mehr in Nebel aufgelöst? Wie lange war es her, dass sie ihre Fähigkeiten für etwas genutzt hatte, dass ihr Freude brachte?


Du könntest ein Teil von allem werden. Ein Teil von diesem Land, ein Teil von Schnee und Eis und Wasser und Stein.


Ein Teil von ein Teil der Truppe.


Der Herzschlag der Welt wurde dumpf, ihr eigener laut und klar und schnell. Ein Teil der Truppe. Ihre Gliedmaßen fühlten sich schwach und müde an, die Woche im ewigen Schnee hatte ihren Tribut gefordert. Ein Schritt. Noch einer. Sie bewegte sich schneller, ignorierte den aufkommenden Schmerz in ihren Gliedmaßen. Ein Teil der Truppe. Ein Teil der Truppe. Ein Teil... Ein Te...


Nein.
Nein.


Sie griff in sich hinein, in den tiefen Teil indem sie ihre Magie wähnte, tiefer und tiefer, durch geschlossene Tore hindurch, die jetzt sperrangelweit aufstanden. Kanalisierte Magie floss durch ihre Adern, durchströmte jeden Teil ihres Seins und es war ihre Magie. Nicht die von Jormag. Nicht die der Svanir, es war ihr Teil der Welt.
"Nein."
Kein Eis, kein Teil des Altdrachen. Ihr Körper verlor die gewohnte Form und für den kleinen Moment indem sie selbst nichts war, als Nebel, war sie ein Teil von Allem.

"Das nächste Mal fliehen wir nach dem Essen!"
"So unfähig beim Teekochen zu sterben bin ich nicht!"
"Ich wurde nicht vergiftet ich... War nur zur falschen Zeit am falschen Ort... GUT! Ich wurde vergiftet!"
"Magier... Die überheblichsten Wesen des Universums. Ich darf das sagen... Ich bin Elementarmagierin."
"In Bjora waren es mehr Pfeile, in Kryta treffen sie besser."
"Was interessiert es dich, was es mich interessiert?"
~ Marena Éconde



Kommentare 2

  • Wieso bin ich der Erste, der das kommentiert?


    Stimmungsvoll geschrieben. Ich mochte diese Überleitungen, die du mit der Bold-Schrift geschaffen hast. Ein ziemlich intimer Einblick, von dem man nicht immer mit Sicherheit sagen kann, was gefühlt und was manipuliert ist. Das gefiel mir. Es lässt viel Raum für Interpretationen und dafür, sich mit der Story und dem Charakter auseinander zu setzen.

    • Vielen Dank :)
      Ich muss sagen ich finde Jormag bietet einfach tolle Möglichkeiten um sich mal mit Dingen auseinander zu setzen, die sonst nie an die Oberfläche kommen würden.


      Ich freue mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat und natürlich auch über den Kommentar!
      :)