Hirvió

An der Hand des Schamanen wurden die beiden Kinder in die Halle gezerrt. Sie sahen sich hinter seinem Rücken an, wissend, dass es heute mächtig Ärger geben würde. Er war zwar gerecht, ließ ihnen so vieles durchgehen. Selbst das eine Mal, als sie versehentlich seine Gewänder in Brand steckten. Gelacht hatte er, mit mild tadelndem Blick den Kopf geschüttelt und es vergessen. Doch heute … heute war da nichts von dem halb ernsten Tadel. Heute war der Griff um die Handgelenke der Beiden siebenjährigen fest wie ein Schraubstock.


Zwischen dem Feuer das in der Senke brannte und dem Abbild des Wolfes blieben sie stehen. Die Kinder rieben sich die Handgelenke, als sie endlich aus dem Griff entlassen wurden. Während Glirnir trotzig zu dem Schamanen hinaufstarrte, hatte Monennia den Blick gesenkt. Sie mochte es nicht, wenn der Schamane sie so ansah, wie er es jetzt tat. Enttäuscht. „Setzt euch,“ befahl er. Sofort machte das Mädchen einen Ruck nach unten. Der Junge hingegen reckte den Hals sogar noch ein Stück weiter. Die Arme wurden verschränkt. „Du setzt dich jetzt. Sofort, Sohn.“ Nachdruck lag in den Worten des Wolfsschamanen. Der Junge murrte hörbar, fiel dann aber doch auf seinen Hosenboden. „Es war dumm von euch.“ Mit einer Geste seiner Hand erstickte er jedes Widerwort im Keim. „Von dir bin ich solche Ideen ja gewohnt,“ sein Blick legte sich auf den Jungen, der mürrisch eine Schnute zog. Anschließend sah er zum Mädchen. „Du allerdings hast mich enttäuscht.“


Stille. Keiner der Drei sagte noch etwas. Der Schamane lies seine Worte ihre Wirkung entfalten. Vier Augenblicke verstrichen, ehe er erneut sprach. Noch immer klang er ernst. Die Sorge, die er in seine Worte legte, fiel den beiden Kindern jedoch nicht auf.
„Lasst mich euch eine alte Legende erzählen. Sie gerät nach und nach in Vergessenheit, doch ist es wichtig, sich ihrer immer bewusst zu sein. In den tiefsten und dunkelsten Wäldern streift er herum. Er ist ein Jäger. Geschickter, als ein einzelner Norn es je sein könnte. Ein Schrecken, der in den Schatten lauert und diejenigen holt, die unbedarft und töricht sind. Er holt sich Jäger, Reisende und besonders Kinder. Manche nennen ihn deshalb Welpenfresser. Andere sprechen von ihm, als Hirvió. Und dann gibt es wieder solche, die ihm den Namen Knochenhäuter gegeben haben. Seine Gestalt ist gewaltig. Ein verdrehtes Wesen aus Knochen und der Haut jener, die er gefressen hat. Er vereint die Finsternis der Boshaftigkeit mit der Verderbnis des Drachen. Und wenn er eins seiner Opfer einmal hat, raubt er ihnen alles, was wichtig ist. Er raubt ihnen die Seele. Den Willen. Die Stimme. Damit jagt er erneut und holt sich diejenigen, die sich auf die Suche machen, um die Unbedarften zu finden. ...“





Sie schreckt aus ihrer Erinnerung, als der stechende Schmerz im Bein schier bis ins Unerträgliche reicht. Im Schnee liegt sie und der Blick hastet gehetzt hin und her. Es ist hier. Sie kann es spüren. Kann es riechen. Einen Moment später sieht sie es auch. Das massige Geweih, welches sich auf dem Schädelkopf befindet schwingt zur Seite, als der Jäger sich seiner Beute widmet. Vergebens tastet sie nach ihrem Bogen. Er liegt unten, am Fuße des Plateaus. Dort wo es sie geraubt hat. Vage erscheint es ihr, als höre sie noch die Rufe der Gruppe. Doch das Stimmengewirr in ihrem Kopf ist drängend. Sie schüttelt den Kopf. Die Gedanken, die Stimmen und das Drängen müssen fort. Es gelingt nicht. Ihr Magen knurrt. Der Geruch von verwestem Fleisch dringt ihr in die Nase, als der Jäger sich vor ihr aufbäumt. Nur einen Moment später schnellt sein massiger Kopf nach vorne.



Keuchend, den Kopf an den Fels gepresst, hockt sie in einer Felsspalte. Die Hand zittert noch immer von dem kräftigen Stoß mit dem sie den Pfeil in das Auge der Bestie getrieben hat. Einen Moment durchatmen. Einen Moment nachgeben. Nein! Nicht nachgeben. Der Hunger ist so groß. Nein! Es wird nicht nachgegeben. Du stirbst heute nicht! Nicht hier! Ein weiterer Pfeil wird aus dem Köcher gezogen. Krampfhaft legen sich die Finger darum und langsam verlässt sie ihr unsicheres Versteck. Hier kann man sich nicht verstecken. Komm, iss. Nein! Sie schiebt sich an den Rand des Plateaus, schaut hinunter. In der Ferne kann sie ihr Rudel sehen. Ihr Mund öffnet sich, um zu schreien, um die Schamanin zu warnen. Doch kein Ton kommt heraus. Sie hört ihre Stimme. Es schreit mit ihrer Stimme.
Komm, Kind. Iss. Einen Moment nachgeben. Nur einen kleinen.


Vielleicht sind die Stimmen in ihrem Kopf dann endlich still.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 5

  • Bwah, da gruselt es ja selbst mich! Toll geschrieben, sehr dicht.

    • Ich musste schmunzeln, als ich das gelesen habe. ^^ Vielen Dank für Deine Worte und für's Lesen.

  • Uuhhh... Sehr schöne Legende und passt perfekt in das Gebiet.. <3 Interessanterweise hatte ich im letzten halben Jahr mit der gleichen Geschichte in WoW als Loa (Spieler ausgedacht) zu tun.
    Super Geschichte und die arme Norn..

    • Uhm... danke! ^^' Ich hab von WoW keine Ahnung, aber es freut mich, dass Du die Geschichte gelesen hast und super findest! :)

    • Naja, geht um die Indianer-Gestalt des Wendigo, deren Loa-Interpretation ich in WoW kenne im Rp.