2. Hof der Gnade


Teil I - Im Angesicht des Todes | Teil II - Hof der Gnade | Teil III - Aufgebahrt | Teil IV - Du bist das Rätsel


Nach einem wichtigen Geschäftstermin in Tonteich breche ich zum Heimweg nach Götterfels auf. Der Weg ist weit, darum bin ich mit dem Pferd gekommen, obwohl ich sonst viel lieber laufe.


Das gemütliche Schaukeln des Pferderückens lockt mich, die Gedanken schweifen zu lassen. Ich muss an meine Nachtwanderung von letzter Woche denken. Und an die seltsame Begegnung dort mit dir. Ich denke daran, wie ich dich, einen verschrobenen Jäger, an seinem tödlichen Abschuss gehindert habe. Und daran, wie ich versucht habe das verwundete Wild mit den kümmerlichen Überresten meiner Sanitäterausbildung bei den Seraphen zu retten. Wie abstrus, und du hast mir sogar geholfen. Dass wir es nicht geschafft haben, kümmert mich wenig, denn zumindest ich habe mein bestes gegeben. Aber was immer wieder in meine Gedanken zurückkehrt, das bist du. Im Grunde bist du nur irgendeiner der vielen fremden Gesichter, denen ich täglich begegne, deren Namen ich nie erfahre und die ich vermutlich nie wieder sehen werde. Aber du bist zumindest in meiner Erinnerung hängen geblieben. Ich habe mir bereits ein klares Bild davon gemacht was für eine Sorte Mensch du bist, als ich sah wie du beim Schießen gezögert hast. Wie du es hinaus gezögert hast. Doch dann, als du dachtest jenes Tier wäre nicht irgendeines gewesen, sondern ein Freund von mir, hast du Mitgefühl und Bedauern gezeigt. Du wolltest es mitnehmen, wenn wir schaffen sein Leben zu retten, und es auf den Gnadenhof einer Freundin bringen. Und als jedes Leben aus dem borstigen Leib entwichen war, wolltest du es mit mir auf dem schönsten Platz am Phinney-Grat begraben. Deine Freundlichkeit wirkte aufgesetzt. Aber aus welchem Grund solltest du einem Fremden tief in der Wildnis deine Hilfe anbieten, wenn nicht aus Mitgefühl?


Mit einem Mal wird mein Blick wieder wach, ich reiße mich aus den Gedankenkreisen und sehe mich um. Schmunzelnd realisiere ich, wohin ich das Pferd unterbewusst geführt habe- zu jener Kuppe am Phinney-Grat nämlich. Ich kenne diesen Ort und habe schon oft aus der Ferne diesen einen Vorsprung am Felshang bewundert. Ich habe nie herausgefunden, wie man dort hingelangt, bis du mir letzte Woche davon erzählt hast. Ächzend schwinge ich meinen schweren Körper aus dem Sattel, binde das Tier an und stapfe durch die feuchte Schicht aus nassem Laub und Schnee. Ich suche stumm den Weg und finde ihn schnell, als ich die Spuren großer Stiefel finde und ihnen folge.


Ich habe nicht damit gerechnet, dir ein zweites mal zu begegnen, aber Tyria scheint sehr klein zu sein. Denn da kauerst du, ein schwarzes Bündel im Schnee, mitten zwischen deinen Tiergräbern. Ich erkenne deinen Mantel wieder, den schäbigen dunklen Stoff, verziert mit Tierzähnen, aber den Mann der darin steckt, erkenne ich kaum wieder. Das erhabene, lauernde Raubtier ist verschwunden, wie ein nasser Sack lungerst du da und zeigst keinerlei Lebenszeichen. Bis ich an deiner Schulter rüttle. Müde siehst du auf und durch mich hindurch. Deine schlaffen Glieder und die unsichtbare Dunkelheit, die dich umgibt, verraten mir, dass es dir nicht gut geht, aber ich kann nicht ausmachen, was du hast. Erst als ich den Brief mit der kleinen, säuberlichen Mädchenschrift und die Waffe neben dir im Schnee entdecke, höre ich auf zu fragen und setze mich still in den Schnee.


Lange sitzen wir da. Ich genieße den herrlichen Ausblick ins Tal und wärme dich wortlos mit meiner Magie, während du den Kopf wieder zwischen den Knien vergräbst und meine Anwesenheit ignorierst. Ich versuche mir einen Reim zu machen, auf die seltsamen Dinge die ich von dir gesehen habe und frage mich, warum ich mir überhaupt so viele Gedanken über einen Fremden mache.


Schließlich fängst du doch an zu reden. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, erzählst du von dem Gnadenhof, den du bei unserer ersten Begegnung schon erwähntest. Du erzählst mir, dass du in der Nähe des Hofes lebst und dass du der Besitzerin oft aushilfst. Du erzählst mir sogar, dass du das gebrochene Bein eines Pferdes dort geheilt und das Tier gekauft hast. Ich verkneife mir nachzuhaken, warum ein Mann, der Freude am Töten hat, auf einem Gnadenhof arbeitet.
Und dann fragst du plötzlich, ob ich mit dir zu diesem Hof reiten und ihn mir ansehen möchte. Du wendest mir dafür sogar deinen leblosen Blick zu. Deine Frage kommt unerwartet. “Was soll ich bei einem Bauernhof, der so weit weg liegt?” entgegne ich.
Aber anstatt zu antworten, siehst du mich nur stumm an. Ich realisiere - du möchtest einfach nur nach hause begleitet werden.