Der Gleitschirm



Als ich in mein Zimmer komme, stehst du vor meinem Schreibtisch und betrachtest ausgiebig den großen Plan, der darüber hängt.
“Das sieht gar nicht aus, wie deine anderen technischen Zeichnungen. Was ist das?” fragst du.
Ich lächle und setze mich halb auf die Kante meines Schreibtisches. “Als Kind.” fange ich an zu erzählen, “Wollte ich kein Schmied werden. Viel lieber wollte ich nach der Dorfschule in die Stadt ziehen und später Physik studieren. Es war mein Traum Ingenieur zu werden. Und Tyria mit bahnbrechenden Erfindungen zu erobern.” Ich schmunzle über meinen Kindheitstraum und du setzt dich hin, um mir aufmerksam zu zu hören. “Aber meine Familie wollte das nicht. Ich wäre der Erste in meiner Familie gewesen, der studieren geht. Sie sagten ich würde das nicht schaffen, und für solch Spielereien wäre keine Zeit. Ich sollte die Lehre bei meinem Vater beenden und möglichst bald meinen Meisterbrief machen.”
“Deine Eltern haben dir ganz schön viel verboten.” stellst du ernüchtert fest. Ich nicke.
“Als ich meine Familie als junger Mann endlich hinter mir gelassen habe und in die Zittergipfel floh, brauchte ich den Beruf, den ich erlernt hatte. Ich hatte nicht die Gelegenheit etwas anderes zu lernen und jetzt bin ich hier. Aber schon vor Jahren habe ich mir die Physikbücher gekauft, mit denen an der Universität gelernt wird. Viel konnte ich mir natürlich nicht beibringen…”
“Und was ist das nun für eine Zeichnung? Das sieht aus wie ein Kostüm für Fledermausflügel.”
Ich grinse. “Das ist ein Plan für einen Gleitschirm.” Weil ich deinen fragenden Blick sehe, erkläre ich. “Eine Technik aus Maguuma, die im Kampf gegen Mordremoth eingesetzt wurde. Eigentlich ist es sehr schwer, hier an so einen Gleitschirm zu kommen. Aber über meine Handelsbeziehungen mit den Wachsamen konnte ich tatsächlich ein ausrangiertes Modell ergattern. Mit diesem Plan…” ich deute auf die große Zeichnung an der Wand “Habe ich seine Funktionsweise studiert, ihn nachgebaut und so modifiziert, dass ich ihn mit meiner Luftmagie manipulieren kann. Ich könnte schon fast sagen, dass dieser Gleitschirm mein ganzer Stolz ist. Ich habe mir einen Lebenstraum erfüllt.”
Du lächelst mich lieb an. Es freut dich, das zu hören. “Und, zeigst du ihn mir?”



Ich habe einen wunderschönen, sonnigen Tag ausgewählt. Eine leichte Brise zerzaust dein langes Haar. Hand in Hand erklimmen wir einen Hügel im Königintal. Dein treues Pferd führst du hinter dir her.
“Wohin gehen wir?”
Ich schmunzle und antworte nicht. Auf meinen Schultern fühle ich das Gewicht der verpackten Metallkonstruktion auf meinem Rücken. Eigentlich hasse ich Rucksäcke, aber den Gleitschirm trage ich gern. Wir steigen immer höher und mit jedem Schritt wirst du zögerlicher, bald muss ich dich schon fast ziehen. “Was ist?” Frage ich nur. Du wirfst mir nur einen unsicheren Blick zu und wir gehen weiter. Ich versuche mir keinen Kopf darüber zu machen was mit dir ist und richte den Blick nach vorn. Der Wald lichtet sich zu einem Feld und das Sonnenlicht strahlt uns entgegen. Ich fühle, wie die Euphorie in mir aufkommt. Seit einem Jahr bin ich nicht mehr geflogen. Du bist in mein Leben gekommen und hast alles umgeworfen, da hatte ich keine Zeit mehr dafür. Und du hast so viele meiner Wünsche erfüllt, dass ich es nicht gebraucht habe. Aber jetzt realisiere ich, dass es mir doch gefehlt hat.
Wir kommen der Kuppe des Berges immer näher. Jetzt breitet sich vor uns eine wunderbare Sicht auf das Königintal aus. Ich habe ihn vermisst, den weiten Blick. Die Höhe, die Sonne, den Wind. Die Freiheit. Am höchsten Punkt bleibe ich stehen und strahle dich an.
“Und jetzt?” fragst du vorsichtig.
Ich ziehe an den Gurten an meiner Hüfte und der Gleitschirm entfaltet sich langsam zu prächtigen blauen Flügeln. Den Stoff habe ich mit Schuppen bemalt und die Metallstreben golden lackiert. Jetzt erkenne ich die tiefe Furcht in deinen Augen.
“Du willst doch nicht da runter springen?” entweicht es dir verängstigt.
Mit einem Mal sackt meine Freude zusammen. “Ja… ja mein Schatz, das habe ich schon sehr oft getan. Ich weiß, dass du es mit deiner Höhenangst nicht nachvollziehen kannst, aber für mich ist es das Schönste überhaupt. Ich weiß, was ich mache. Reite du hinunter ins Tal, dort werde ich landen.”
Du wirst ganz blass. “Ich habe große Angst Jacob. Angst um dich. Du bist doch kein Vogel! Und wenn du fällst… du bist alles was ich habe…”


Ich schlucke schwer. Warum habe ich daran nie gedacht? Jetzt sackt mir das Herz in die Hose. Und mit einem Mal wird mir klar, dass ich zwar nicht mehr einsam bin, aber auch nicht mehr frei.

Kommentare 3

  • Die Präsensform und Perspektive (du/ich) fand ich sehr interessant. Habe ich bisher nur sehr selten in Geschichten gesehen.
    War mal erfrischend anders und habe ich sehr gern gelesen :)

    • Danke :) Ich fand es eigentlich auch erst seltsam und ungewohnt, dann aber gerade auch wieder passend für genau diesen Fall. Bei diesen beiden Charakteren habe ich alle geschichten so geschrieben (Die mit der Sonne und dem Mond im Banner)

  • Da habe ich einfach mal spontan eine Geschichte runter geschrieben. Sonst brüte ich immer tagelang über so einer kurzen Geschichte.
    Ich hoffe sie gefällt trotzdem!^^