Unheimlich

"Manchmal erhellt nur ein kleines Lichtlein den Weg in die Untiefen der Psyche."


Das Kloster Eldvin, 1328 n.E.


"Noch einmal meinen Dank, dass Ihr mich so spontan empfangen konntet, Pater." Darius übergab den Hengst einem Stallburschen und zog sich die schlohweißen Reithandschuhe von den Fingern.

"Das ist selbstverständlich, Euer Vater war gestern bereits hier, aber wie üblich war seine Zeit knapp bemessen." Der alte Mönch in der hellen Robe Kormirs verbarg seine Hände unter dem Schleier langer Ärmel, bedächtig vor dem Bauch zueinander gelegt. "Und zugegeben, die Lage ist etwas prekär. Er stellt sich als schwieriger Gast heraus. Vielleicht habt Ihr mehr Einfluss auf sein Verhalten, kaum ein Buch spricht über derartiges."


"Dass er ein Sonderling ist, ist mir bewusst. Uns allen. Aber das hier ist seine letzte Möglichkeit, das wisst Ihr." Pater Demel senkte seinen Kopf ab und die glatte Hautfläche einer Tonsur strahlte Darius entgegen. Der junge Baron schnaubte streng, strich sich ein lästiges Bündel dunkler Strähnen in die eitel geformte Frisur zurück und fand ergänzende Worte. "Deswegen drängt die Zeit. Wenn wir nicht eine Lösung für ihn finden, dann finden sie die Götter. Und wer, wenn nicht Ihr, wüsste, wie streng ihr Urteil gegenüber Krüppeln und Behinderten sein kann?" Der Pater hob mit einer Mischung aus unterdrücktem Entsetzen und Abscheu den Blick an. Aus jungen, vor angriffslustigem Eifer glühenden Augen stellte sich Darius der Ablehnung des Geistlichen entgegen. Alles und jeder war ein Schlachtfeld, das er beherrschen musste.


"Dann folgt mir. Seht Euch bitte seinen Zustand selbst an, aber, bei den Göttern, unsere Fähigkeiten reichen auch nur so weit. Ich empfehle Euch nach wie vor den Jungen in eine richtige Heilanstalt einzuwiesen." Demel ging voraus und Darius folgte ihm mit strengen Schritten hoher, glatter Stiefel, die nur wenige Sprenkel Matsch während des Hinwegs von der weißen Stoffhose abhalten mussten. Die extravagante Jacke in Weinlila mit silbernen Epauletten wirkte in den Augen des Paters wie eine künstlerische Perversion irgendeines verzogenen Hauptmannes.

"Nein, es ist der Wunsch meines Vaters - und auch meiner -, dass er in der Nähe der Sechs sein Schicksal findet. Wir werden nicht irgendwelche Quacksalber dafür bezahlen, dass sie schmerzhafte Behandlungen an ihm durchführen, die ihn zuletzt als apathischen Fleischklumpen uns überführen. Ich habe die Geschichten über Meißel und Augenhöhle gehört, Pater."

Ein dumpfes, aber absichtlich hörbares Seufzen stellt die Erstreaktion des Geweihten dar. Beinahe lautlos schlurft er auf Sandalen durch einen schlecht beleuchteten Gang auf eine Holztür zu, den jungen Aristokraten im Schlepptau. "Ich bin auch kein Freund dieser drastischen Maßnahmen, aber unter Berücksichtigung diverser Lektüren ist das immerhin der Pfad zu einem ruhig..-"


Prompt fällt Darius dem Argument ins Wort. "Genau das ist das Problem in Eurem Denken. Er soll kein ruhiges Leben führen. Er soll ein reines führen, so, wie die Götter es für ihn vorsahen, da sie ihn zur Missgestalt machten. Er soll sich als solche entfalten können. Wer sind wir, ihm die geschenkten Visionen und Gaben zu nehmen? Als die Rede davon war, eine Lösung für ihn zu finden, sprach ich nicht von 'Heilung'. Habt Ihr denn eine Ahnung, wie viele Künstler mit ihrer verzerrten Sicht auf die Welt die größten Werke schufen?"

Nachdem die Tür zum Infirmarium durchschritten ward, klimperte ein Schlüsselbund, da Demel an der Zimmernummer 4 inne hielt und das Schloss aufsperrte. "Wenn Ihr meint, Baron, dass das viel mit Kunst zu tun habe, dann bitte."


Die Scharniere gaben dem Druck nach, der die Pforte aufschob. In einem kargen Zimmer mit einem kleinen Fenster, einem kruden Bett, einem beinahe leeren Schreibtisch samt Stuhl und einem Abort in einer Wandnische saß am Bettrand ein Junge von achtzehn Jahren, doch die blasse Haut und die unter den Augen geschwollenen Tränensäcke ließen ihn älter wirken. Sein schwarzes Haar, kurz und gelockt, fügte sich eigentlich ansehnlich zu der tiefbraunen Augenfarbe. Und dann war da noch dieser hässliche, fast die gesamte, linke Wange verfärbende Bluterguss in Rot, Grün und Blau. Gerade in dem Moment, als die Türe aufgeschoben wurde, sah Medardus sich das glatte Ebenholz des Griffbretts einer Violine abwesend an. Sein verklärter Blick hang nicht nur am Holz, sondern auch an den Saiten, die es wie einzelne Straßen überzogen.

Er war erschöpft und sah fürchterlich übermüdet aus, aber etwas hielt ihn vom Schlaf ab.


"He, Medardus. Meddie. Ich bin hier. Darius." Das Timbre schritt in warmen, melancholisch-sonnigen Gefilden, als sich der Baron an den gedankenabwesenden Jungen wand. Doch eine Reaktion blieb ihm vorerst verwehrt. Also legte Darius Hand an einen der Unterarme, die das Instrument stützten und gewann erst dann den ihm abgrundtief leer erscheinenden Blick von Medardus. Als er das erkannte, ließ er wieder von ihm ab, sogleich wurde die Inspektion im Halbschlaf fortgeführt.

"Wir mussten ihm heute etwas zur Beruhigung geben, weil er gewaltsam den Abt angehen wollte, Baron. Wir hatten keine Wahl." Die erklärende Worte kamen, leise aber aufrichtig, aus Darius Rücken. Der wandte keine Aufmerksamkeit dorthin, sondern blieb dem Jungen zugewandt stehen. "Verständlich." Kurz, schneidend, das quietschende Reißen einer gespannten Saite, als Medardus mit überraschender Kraft daran zog.


"Die Musik beruhigt ihn immer noch?", wollte sich Darius vergewissern. "Ja, die Musik und mittlerweile auch, absurderweise, die Gegenwart der Balthasarnovizen."

"Weshalb 'absurderweise'?" Erst diese Nachfrage trieb Darius Blick mit einem Funken Interesse über die Schulter zum im Türrahmen stehenden Pater.

"Weil sie für dieses Hämatom, das Ihr dort seht, verantwortlich sind. Es geschah gestern, als er sich in der Freizeit mit Ihnen anlegte. Und Ihr wisst, wie die Diener des Feurigen manchmal...-"

Wieder fiel der Baron, jetzt allerdings in einem sichtbaren Anflug gedanklicher Inspiration getränkt, dem Pater ins Wort. "Ja, ja das weiß ich. Und weiter?"

"Nun - Seitdem wollte er wieder und wieder dorthin. Er hat uns, schweigsam wie er ist, nicht gesagt, weshalb er das will. Aber wir sind zwiegespalten, ob wir das zulassen sollten, auch wenn es etwas ist, das er wirklich zu wünschen scheint. Wir haben ihn auch davon abgehalten seinen Kopf ständig gegen die Wand zu schlagen und das hier ... Das ist Selbstverletzung auf Umwegen." Unter sachter Schräglage beobachtete Demel den missratenen Schützling, den auch nicht die gerissene Saite davon abhalten konnte, am Wirbel solang zu drehen, bis die obere Hälfte ganz aufgewickelt war.


"Lasst es zu."

"Aber wieso?"

"Medardus lebt in einer anderen Welt, deren Zugang sich uns entzieht, Pater. Als er damals vor die Tür ging, bezeichnete er die Welt außerhalb der vier Wände als 'unheimlich'. Alles kam ihm unheimlich vor. Das Treiben auf dem Marktplatz, das Plätschern des Bachs, das Kläffen der Köter. Es war auch unheimlich, weil es nicht zu seinem 'Heim' gehörte. Er hatte es bis jetzt nicht gefunden. Aber die Musik, die Musik beruhigte ihn immer. Wenn ein Barde seine Lieder plärrte, selbst wenn es mittelmäßig schlechter Gesang auf einem Fest war, in diesen Moment war er heimlich im wahrsten Sinne. Das hier ist seine nächste Türe zur Welt."

"Selbstverletzung?"

"Konflikt, Gewalt und Herausforderungen."

"Eine ziemlich ungesunde Türe zur Welt." Der Ausdruck bloßer Geringschätzigkeit lag in den Worten des Kormirgeweihten.

"Um das zu verstehen tragt Ihr das falsche Ornat, mit Verlaub, Pater. Ich möchte gleich mit einem Priester des Kriegsgotts hier im Kloster sprechen. Er wird die weitere Behandlung übernehmen."

"Und was erhofft Ihr Euch von den Methoden der Kriegsgläubigen?"


"Dass das neben der Musik zu seiner Welt wird. Wann immer er Gewalt, Krieg, Kampf und Feuer erlebt, sieht er die Welt als sein 'Heim'."

Schließlich ging Darius einen Schritt auf den entsetzt dreinblickenden Demel zu.

"Und wenn diese unheimliche Welt davon nicht genug zu bieten hat ... erschafft er mehr."

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