Ein seltsamer Mann

Was für ein seltsamer Mann.


Savah streifte ihre Stiefel von den Fersen und zischte ein leises „Scheiße!“ in die Dunkelheit, als der linke ihr aus der Hand glitt und polternd auf die Flurdielen fiel. „Bist du das, Schätzchen?“, fragte eine heisere Stimme aus dem hinteren Teil der Parterrewohnung und Savah schob die Schuhe eilig unter die schmale Bank. „Ja, Tantchen, schlaf weiter!“

„Du bist aber spät zu Hause!“

„Das habe ich mir nicht ausgesucht“, murmelte Savah, ehe sie etwas lauter zurückrief: „Es ist alles in Ordnung, Tante! Bitte schlaf!“

Ein heftiges Pochen aus der Wohnung über ihr ließ sie kurzzeitig zusammenzucken. Die Stimme, die zu ihr herunterbellte, wurde durch die Zimmerdecke nur mäßig gedämpft. „Hier will nicht nur deine Tante schlafen! Nimm gefälligst Rücksicht!“

„Ent-schul-di-gung!“

So behutsam, wie sie es zustande brachte, schlich Savah in die kleine Kammer gegenüber der Tür und schlüpfte hinter den Vorhang, der sie vom Rest der Wohnung abtrennte. Die Luft entwich ihren Lungen, als der Stoff hinter ihr herabglitt und sie sich einen Augenblick gegen die kühle Wand lehnte. Sie strich sich ein paar helle Strähnen aus der Stirn. Dann schnallte sie ihren Gürtel mit der Dolchscheide ab und begann, sich auszuziehen.


Savahs Hemd landete auf dem Stuhl. Ihre Füße hatten während des Gesprächs mit dem Ratsherrn in den hohen Lederstiefeln geschwitzt. Sie roch an den schlichten, kniehohen Strümpfen, die sie von ihren Füßen gezogen hatte und entschied, dass sie die Nacht vorn im Flur verbringen durften. Die Hose konnte sie noch einmal anziehen, also kam sie zu ihrem Oberteil. Den Büstenhalter von sich schleudernd, ließ sie sich auf das Bett unter dem kleinen Fenster fallen und seufzte erleichtert.

Freie Brüste für freie Frauen.

Sie drehte ihren Kopf herum und blickte in den sanft bewölkten Himmel hinauf, durch den das Licht einer noch schlanken Mondsichel drang.


Savah hatte nie erwartet, dass Götterfels und die Siedlung Ascalon miteinander zu vergleichen wären. Dass der kulturelle Schock so groß ausfiel, überraschte sie trotzdem. Seit sie fünfzehn war, hatte sie ihrem Vater im Kontor ausgeholfen und sich eingeredet, der Umgang mit seinen Geschäftspartnern von der Nebo-Terrasse, aus Beetletun und vor allem Löwenstein hätte ihr so etwas wie einen erweiterten Horizont beschert, der ihr in der Hauptstadt von Nutzen sein würde. Aber der Ratsherr hatte sie mit seinem provokanten Verhalten überrumpelt. Wäre sie ihm in einer Taverne begegnet, hätte er sie wohl weniger durch seine Art überrascht. Sie hatte sich im Vorfeld kein Bild von ihm zurecht geschustert, aber hätte sie eine Erwartung an einen krytanischen Volksvertreter gehegt, wäre sie nicht erfüllt worden.


Savah rollte sich auf den Bauch und legte ihre Wange auf dem Kissen ab. Während sie das tat, zog sie die Klemmen aus ihrem Haar, mit denen sie es an ihrem Hinterkopf hochgesteckt hatte. Weich fielen die blonden Strähnen über ihren Hals. Mit dem krytanischen Recht und der Geschichte zwischen Kryta und Ascalon sollte sie sich beschäftigen, bevor sie eine mögliche Stelle als seine Assistenz antrat. Savah hoffte, dass die Halle von Durmand einige Bücher zu diesen Themen bot und man ihr auch gestatten würde, sie durchzugehen. Notizen würden wichtig werden. Savah kannte sich nur mit handelsrechtlichen Belangen aus, und auch nur mit denen, die für das Kontor von Bedeutung gewesen waren. Der Konflikt zwischen Ascalonen und Krytanern bestand schon seit Jahrhunderten. Und der Ratsherr hatte gesagt, im Moment arbeite er noch ganz allein daran, ihn abzubauen. Was für eine Mammutaufgabe. Und wie fühlte er sich als Ascalone damit? Zufrieden, weil kein Krytaner diese Verantwortung an die Hand bekommen hatte? Oder lächelte er insgeheim höhnisch über die Ironie dahinter? Noch höhnischer vielleicht, weil es aber eine Krytanerin war, die ihm nun zuarbeiten wollte? Ascalon oben, Kryta unten in der Hierarchie?


Mit den nackten Füßen strampelte Savah sich ihre Decke heran und griff schließlich danach, um sie sich über die Schultern zu ziehen.

Als erstes würde sie lernen müssen, seinen Namen richtig auszusprechen.

Kommentare 4

  • Ich musste über den letzten Satz herzlich schmunzeln. Ein unerwarteter, aber taktvoller Abschluss. Ich schließe mich Harlems Bewertung an. Es liest sich sehr flüssig und atmosphärisch dicht. Die freien Brüste haben mich nickend gemacht. Es ist sehr lebensnahe geschrieben und dadurch für mich greifbar und bildlich. Diesen Anspruch habe ich an einen Text mit einem solchen Inhalt und du hast ihn voll und ganz erfüllt. Ein gemütlicher kleiner Einblick, den ich gerne gelesen habe. Danke dafür.

    • Vielen Dank für die lieben Worte und dass du so auf den Text eingegangen bist. Es ist ja kein besonders langer. Umso mehr freue ich mich, dass er dir gefallen hat. :)

  • Super schön und atmosphärisch geschrieben. Da mag man noch mehr lesen! :3

    • Dankeschön, ich freue mich sehr, dass du dir die Zeit zum Lesen genommen hast und es dir gefallen hat. <3