Nur geträumt - oder?

Vhesyera lässt sich mit dem Buch in einen der beiden großen Sessel nieder. Die Möbel stehen einander zugewandt, wohl um selbst während des Lesens hin und wieder über den Rand des Schriftwerks hinweg denjenigen anzuschauen, der einem hier Gesellschaft leistet. Doch der zweite Sessel ist leer und bleibt es auch, während sie die Beine anzieht, den Arm auf die breite Lehne stützt und sich noch etwas mehr in das Buch vertieft, nachdem sie eine bequeme Position gefunden hat.

Immer wieder fährt sie das ein oder andere Symbol vorsichtig mit den Fingerkuppen nach und stellt sich vor, wie Dylan an einem, von ihrer Fantasie erdachten, Schreibtisch sitzt und die sorgsamen Linien aufs Papier bringt. Dabei trägt er dieses helle Seidenhemd, die Knöpfe bequem geöffnet bis zur Brust. Das silberweiße Haar in einem unordentlichen Knoten, wobei ihm eine Strähne ins Gesicht gefallen ist. Vhesyera hatte nie etwas für Wissenschaftler und Gelehrte übrig. Zumindest kann sie sich nicht erinnern. Doch das Bild in ihrem Kopf, wie Dylan dieses Buch schreibt, gefällt ihr. Genug, um sich vorzustellen, wie sie von hinten an den konzentriert arbeitenden Mann heran tritt, ihre Hand über seine Schulter nach vorn in das Hemd auf seine Brust gleiten lässt und den Kopf senkt, um seine Halsseite zu küssen. Kühl wäre seine Haut an ihrem Mund. Lavendel in ihrer Nase und etwas Herbes, für das sie keine Bezeichnung finden kann.

„Du weißt, dass das nicht passieren wird, nicht passieren darf“, raunt Dylan und bringt Vhesyera mit seinen Worten zum Erstarren. Allerdings ist es nicht die kühle, höfliche und stets distanzierte Stimme ihres Mentors, die da erklingt.

„Mutter?“, entfährt es ihr in einer Mischung aus Irritation und Unglaube. „Ist das hier.. ein Traum?“, will Vhesyera wissen und kann sich nicht erinnern, über dem Buch eingeschlafen zu sein. „Natürlich, mein Liebes“, ertönt abermals die vertraute Frauenstimme. Diesmal mit einem hörbaren, warmen Lächeln. „Kannst du bitte aufhören mit Dylans Mund zu sprechen? Das ist.. grotesk.“ Vhesyera verzieht das Gesicht und löst sich von ihrem Mentor. Der wiederum lacht leise amüsiert. „Dann gib mir einen anderen Körper“, fordern die blassrosa Lippen, die nicht ihrer Mutter gehören, aber ihre Worte aussprechen. Nur einen Atemzug später erscheint eine weitere Person in dem Szenario. Die vertraute Gestalt der Frau, die Vhesyera geboren hat und sie lächelt dieses warme, mütterliche Lächeln, während Dylan ausdruckslos, wie eine leere Hülle, ins Nichts starrt, die Schreibfeder noch in den schlanken Fingern.

Ein lautloses Seufzen bewegt Vhesyeras Brust. „Er wird zum Problem, Amira“, summt ihre Mutter nahe bei ihr und legt nun den Arm um ihre Schulter. Die andere Frau ist etwas größer, als Vhesyera selbst, die es nie über ihre 1,65m hinaus geschafft hat. Warm und weich berühren die mütterlichen Lippen ihre Schläfe und sie schließt die Augen. „Du kannst es dir nicht leisten, den Kopf zu verlieren. Dein Herz noch viel weniger..“, treffen die Worte ihrer Mutter leise, aber eindringlich ausgesprochen auf Vhesyeras Haut. „Du übertreibst!“, wendet sie schnaubend ein und erntet dafür nur ein warmes Lachen. „Ach wirklich? Meine Intuition hat mich noch nie im Stich gelassen und für das hier“, werden die Worte mit einer allumfassenden Geste unterstrichen. „.. bräuchte ich sie nicht einmal. Es ist allzu offensichtlich. Deshalb ist es auch dringend notwendig, dass das Siegel erneuert wird“, spricht die Mutter nun eindringlicher und ernster.

„Was? Nein!“, sträubt sich Vhesyera, versucht sich aus der Umarmung der Frau zu befreien. Doch die ist unnatürlich fest. „Das ist nicht nötig. Wirklich! Er ist nur mein Mentor. Nichts weiter!“ Ein resigniertes Seufzen geht von ihrer Mutter aus. „Wir wissen doch Beide, dass das nicht stimmt. Es ist das Beste und außerdem der einzige Weg für dich“, erklärt sie bedauernd, aber auch mit unnachgiebiger Strenge. „Raabia, das Siegel. Na los“, fordert die Frau, die Vhesyeras Körper hält, wie eine Schraubzwinge, aus der sie sich nicht zu befreien vermag. „Nein, lass mich los“, verlangt die Jüngere aufbegehrend.

Da erscheint auch schon eine weitere Gestalt aus dem Nichts. Raabia. Die knorrige Alte mit den dürren, langen Fingern, an denen spitze Nägel wie Krallen wachsen. Ihre rechte, wettergegerbte Wange ist von einer dicken Narbe zerklüftet, die von der Stirn bis zum Kiefer reicht. Das Auge fehlt und die verbliebe Höhle wirkt wie ein dunkler Schlund, während die verbliebene Iris auf der linken Seite einem Lagerfeuer gleich glüht. Vhesyera spürt die Panik in einem heißkalten Schauer vom Scheitel über den Nacken und das Rückgrat hinunter rollen. „Nein“, entfährt es ihr erneut und der Adrenalinschub sorgt für neue Gegenwehr. Doch der Griff ihrer Mutter ist unnachgiebig. „Nein, Nei..“, der letzte Versuch des Widerworts geht in ihrem Schrei unter, als Raabias rechte Hand sich auf Vhesyeras Brust legt. Oder besser, sich in sie hinein gräbt. Hitze. Reißender Schmerz, überall. Und dann.. nichts mehr.


Mit einem Japsen fährt Vhesyera im Sessel hoch. Ein leises Poltern. Das Buch ist von ihrem Schoß auf den Boden gefallen. Tiefrotes Blut tropft von der Klinge, die sie fest mit der rechten Hand umklammert hält. Es ist ihr Blut, das aus einer Wunde an ihrem linken Unterarm stammt und Flecken auf dem Polster des Sessels hinterlassen hat. Wie ärgerlich!

Kommentare 8

  • Klingt nach einem schnieken Kerl, dieser Dylan 😏

    Spaß beiseite - Wie immer grandios geschrieben <3 Ich warte sehnlichst auf mehr!

    • Der schniekigste schnieke Eisklotz, den ich kenne :D


      Ich meine, der Kerl hat Vhesyera ein verdammtes Buch geschrieben - mit persönlicher Widmung! Wenn das nicht schnieke ist, weiß ich auch nicht! <3

    • Dylan, Dylan, Dylan... Ich schätze, dein bester Kumpel ist in sachen Frauen nicht mehr up to date, lass mal wieder spielen! XD <3

      Schöne Geschichte!

    • Ich glaube, Dylan ist in Sachen Frauen selbst nicht so ganz up to Date xD

    • *hat gerade eine Vision von einem skurrilen Treffen mehrere bleicher, hagerer Nekromanten im abartigen Keller der durchgeknallten Wüsten-Ritualistin und versendet sprechende Schädel mit grün leuchtenden Augen als Einladungskarten* P.S.: Kadaver sind als Mitbringsel immer gerne gesehen. P.P.S.: Vielleicht gibt's auch den ein oder anderen Tipp zum Umgang mit Frauen, sobald die morbiden Punkte auf der Tagesordnung abgeschlossen sind :D

  • Mich machen Geschichten selten sprachlos. Das hier ist eine davon!


    Ich mag wie du in Geschichten Bilder "malen" kannst. Man kann sich die Situation sehr lebendig vorstellen und das ist großartig.


    Danke, dass du so viele Geschichten mit uns teilst. :)