Verziehen

Ihre rechte Hand strich sich wildes gelöstes Haar aus der Stirn. Es dauerte noch Minuten. Viele Minuten. Schließlich fiel ihr Tür erneut ins Schloss. So wollte sie die Nacht nicht enden lassen.


Auch er stemmte sich in die Höhe, hob die Nadel von der Platte, löschte das Licht und schnappte seinen Mantel an der Garderobe. Das Glas in der Doppeltür des Vorraums wackelte kurz bevor er die Treppe hinab eilte.


Die dunkle Kapuze über dem hellen Haar folgte sie den Fußspuren von Stiefeln, die kaum mehr zu sehen waren, aber in die andere Richtung gingen. Die Menschen waren auf den Straßen noch unterwegs, strömten zu Abendmärkten, Restaurants oder nach einem Schneespaziergang nach Hause. Sie trat gerade an einem kleinen Brunnen vorbei und blieb mitten im Schritt stehen. Der Blick war nach vorne gerichtet, die Kapuze wurde mit beiden Händen hinab gezogen und das Blau haftete auf etwas, was gerade um die Ecke gebogen war.


Er wusste selbst nicht, warum es plötzlich so wichtig war, dass sie jetzt nicht miteinander stritten. Es ging längst nicht mehr um den Fall und schon gar nicht um seine Sorge, dass ihre Zusammenarbeit durch den Zwist gestört würde. Ein großer Schritt über eine Pfütze in dem groben Kopfsteinpflaster, ein Blick in die Richtung, in die er ging - zum kleinen Brunnen hin - und auch er hielt an Ort und Stelle inne.


Nur eine kleine Strecke trennte sie voneinander. Immer wieder kreuzten andere Menschen den Weg, der zwischen ihnen lag. Einen Blick für diese Fußgänger, die an ihnen vorbei zogen, hatten sie aber gerade beide nicht. Stattdessen setzten sie sich nochmals in Bewegung und fanden an diesem Abend erneut zueinander: „Es tut mir leid!" sprach er laut genug, dass sie es hörte, obwohl sie noch mindestens zwei oder drei Armlängen voneinander entfernt waren. Es stimmte - es tat ihm leid.


Die Worte drangen an ihr Ohr und sorgten dafür, dass sie etwas schneller wurde. „Verziehen." Ihre Stimme nahm er selbst im abendlichen Wintertagsgemenge klar und deutlich wahr.


Der anschließende, öffentliche Kuss zog die Aufmerksamkeit einiger Passanten auf sich. Es gab einen verhaltenen Applaus und etwaige Zurufe. Ganz sicher war da auch ein Acht- oder Neunjähriger, rotbackiger Junge der, wegen dieser romantischen Szene, angewidert das Gesicht verzog.



Diese Geschichte ist ein kleiner Auszug aus dem Rollenspiel mit Annabelle E. ! ♥



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