
In der gedämpften Beleuchtung der Lunabar, umgeben von den beschwingten Klängen einer eingespielten Band, lehnte Milan an der Theke und ließ seinen Blick über die Tanzfläche wandern. Milan, der Mann, dessen Leben sich in den letzten Monaten zwischen starren Mauern seines Büros und lebhaften Diskussionen eines Hörsaals abgespielt hat. Früher hätte sich der Blonde gewiss nicht ausmalen wollen, dass auch er mit Ende Vierzig in einer verwinkelten Kunstbar nach einem anstrengenden Arbeitstag ein kleines bisschen Abwechslung suchen würde. Die Aura der Würde und des Erfolgs haftete ihm an, genauso wie allen anderen Anzugträgern an der Bar. Doch das machte keinen von ihnen besonders – auch ihn nicht. In den letzten Monaten hat er sich selbst vernachlässigt, seine Leidenschaften beiseitegeschoben für die endlosen Forderungen seiner Karriere. Niemand hatte es gefordert, aber er sah die Pflichten vor allem anderen. An diesem Abend aber, in dieser winzigen Kunstbar, wird er sich für ein paar Stunden wieder finden – nicht als Jurist, nicht als Dozent, sondern als ein Mann, der die Freiheit im Tanz spürt.
Mit geschmeidigen Schritten trat er auf die Tanzfläche, ein Ort, der ihm einst so vertraut war und nun beinahe fremd auf ihn wirkt. Seine Finger greifen nach der Hand einer Frau, deren Gesicht im Schatten verborgen bleibt, deren Präsenz aber eine Einladung ist, sich mit ihr gemeinsam in der Musik zu verlieren. Sie darf die namenlose Muse sein, die ihn zurück auf das Tanzparkett lockt, ein Spiegelbild der Sehnsucht, die er lange unterdrückt hat, obwohl es nicht verlangt war. Mit jedem Schritt, jeder Drehung, lässt er die Fesseln seiner Verantwortungen hinter sich. Die Bewegungen werden wieder fließender, sicherer, als würde er mit jedem Takt der Musik ein Stück von sich selbst zurückerobern.
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Die Nacht war eingebrochen und die ersten Gäste der Lunabar verabschiedeten sich von Gloria, die hinter der Theke Gläser polierte. Die Musik wurde längst nicht mehr von Menschenhand gespielt, sondern kam von einer Platte, aber das hielt nicht alle davon ab noch auf der Tanzfläche zu schmusen. Die weißhaarige Bardame warf Milan ein Tuch in den Rücken. „Schön, dass du mal wieder da warst. Hätte nicht gedacht, dass ich das nochmal erlebe!“ Milan lachte müde und schüttelte nur den Kopf. „Ich werde den Weg immer hierher zurückfinden, Gloria.“ sprach er ruhig. „Selbst wenn meine Schwester hier ständig auf der Bühne steht. Was die Frage aufwirft.. wo war sie heute Nacht? Sonst lässt sie keine Gelegenheit aus im Scheinwerferlicht zu baden.“ Selbst wenn er sich bemühte wertfrei zu reden, klangen seine Worte über Jolene abschätzig. Gloria hielt in der Bewegung inne und blickte auf das Glas in ihren Händen. Milan reichte ihr das Tuch und zog die Brauen zusammen. „Was..? Was hat sie dieses Mal angestellt?“ fragte er alarmiert.
Sein dunkles Blau fixierte Gloria, während deren Worte wie ein unaufhörlicher Strom flossen. Sie erzählte ihm jede Kleinigkeit, die seine Schwester in den letzten Wochen umtrieb. Jede Eskapade, jeder Streit, jede Kleinigkeit ihres Lebens und die Menschen die darin verwickelt waren. Mit jedem Detail, das Gloria über seine Schwester preisgab, wurde Milan stiller. Die Geschichten von Skandalen und unglücklichen Begebenheiten, die Jolene umgaben, ließen ihn äußerlich ungerührt. Er hatte stets ein distanziertes Verhältnis zu ihr gepflegt, doch die Tatsache, dass sie sich nicht an ihn gewandt hatte, um Hilfe zu suchen, ließ ihn nicht kalt. Gloria, unwissend über das, was sie auslöste, plauderte weiter, enthüllte jedes noch so kleine Geheimnis und jedes Ereignis, die seine Schwester betraf. Zu lange hatte die Barfrau niemanden gehabt mit dem sie offen über all das Geschehene sprechen konnte. Milan schluckte den aufkommenden Zorn herunter, seine Faust um das halbleere Glas spannte sich fester. In dieser Nacht, in einer Kunstbar, wo sonst Musik und Tanz im Vordergrund war, stand ein großer Bruder im Zwiespalt zwischen gewohnter familiärer Distanz und dem unerwarteten Drang, seine kleine Schwester vor allem zu beschützen, was auch nur den kleinsten Schatten auf sie werfen könnte.
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Das braune Sacko spannte um seinen Rücken, als er früh morgens am besagten Hof ankam. Ein weißes Hemd, braune Schuhe und eine bequeme, fabrlich abgestimmte, Wollhose und schließlich die Aktentasche – die das ordentliche Erscheinungsbild vervollständigte. Sein blondes Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden und die goldene Brille auf der Nase funkelte im Sonnenlicht. Es war kurz nach der Frühstückszeit, als er unangekündigt an die Tür des Anwesens klopfte. Der Mann, der ihm aufmachte, war mindestens genauso groß wie Milan selbst und ebenfalls blond. „Guten Morgen, Ehre der Krone und dem Ministerium. Verzeiht die frühe Störung – vor allem unangekündigt: Habe ich den Hausherren und Grafen direkt vor mir?“ Das charmante Lächeln des Juristen wirkte freundlich. Ein Auftritt welcher ihm auch im Gerichtssaal für gewöhnlich Türen öffnete. „Ja, Ihr sprecht mit ..“ Milan stellte seine Tasche ab und richtete sich wieder langsam auf. Er hörte die Vorstellung des Mannes dumpf an sein Gehör dringen und nickte. „Was wollt …“ Diese Frage konnte der unvorbereitete Mann nicht mehr stellen. Die Nase des Hausherren knackte unter der Faust des blonden Strafrechtlers. Einen weiteren Angriff musste der Graf glücklicherweise nicht über sich ergehen lassen.„Solltet Ihr auch nur noch einmal dafür sorgen, dass meine Schwester sich unwohl in Eurer Gegenwart fühlt oder wegen euch in irgendwelche Zwischenfälle gerät – öffentlich oder nicht, werde ich Euch bis auf das letzte Hemd verklagen. Ich werde euch Dinge andichten von denen Ihr noch gar nicht wisst, dass Ihr sie getan habt. Dinge, die Ihr euch nicht vorstellen könnt. Zu keinem Zeitpunkt – ob in naher oder ferner Zukunft, werde ich es zulassen, dass ein Versager wie Ihr, Jolene noch einmal Schaden zufügt. Nicht gesellschaftlich, nicht seelisch und schon gar nicht körperlich wie zuletzt.“ Befreit atmete er aus. „Einen schönen Tag wünsche ich Euch.“ So wie er gekommen war, griff er nach seiner Aktentasche, rieb sich über die schmerzenden Knöchel der rechten Hand und verließ das Grundstück.
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