
Sanfte Triggerwarnung: Blut, Gewalt und Dreck
„Du weißt nicht, was du willst, Narcis. Du weißt nicht mal, ob du Ganoven fassen oder zu ihnen gehören willst.“
„Ich weiß, was ich will.“
„Was willst du?“
„Was nötig ist.“
„Bleib hier!“
Das Schilf flackert, Kugeln schlagen in die Böschung. Unter den Herbstwolken scheint das Abendlicht blass, grell und blendend. Der Regen hat aufgehört, aber der Boden bleibt weich. Ein schmatzendes Ziehen an seiner Sohle, bei jedem Schritt droht der Schlamm seine Stiefel zu verschlingen. Sie sind zu fünft. Vier von ihnen nehmen Deckung hinter einer aus improvisierten Schilden geschichteten Seraphenkluft. Der Fünfte liegt ein paar Meter vor ihnen auf dem Boden. Er bewegt sich nicht.
„Bleib hier!“ Templin will sich lösen. Verständlich. Der Impuls, einem Freund zu helfen ist stark. Aber er ist auch tödlich. Er befindet sich direkt an Narcis' linker Flanke. Zappelt bedenklich.
„Templin!“
Als der Alarm kam, stand Narcis gerade in Tonteich an der Waffenkammer, das Hemd halb geöffnet, wollte eigentlich heim.
Er hätte nicht mit raus sollen. Es gab keinen Befehl für ihn und keine Zeit, seine Rüstung wieder anzulegen. Aber als er die Rufe hörte und die ersten losrannten, griff er automatisch nach der Waffe. Der Drang, zu helfen, war stärker als das Wissen, dass das Dummheit war. Er wusste, dass er sich das abtrainieren musste, vermutlich mittels Strafen oder sich abermals in die Ferne schiebenden Beförderungen. Aber das Wissen hielt seine Beine nicht zurück.
So wie Templin sich jetzt nicht zurückhalten kann.
Zwischen den feuchten Böschungen steht Rauch, jemand schreit.
Immer noch schlagen Schüsse ein. Manche gut gezielt, lassen Erde spritzen, andere, wie blind abgegeben, zerreißen Blätter. Sie sind mehr als die Seraphen, aber nicht alle von ihnen sind gleich gut ausgerüstet. Einer schießt mit einer Armbrust.
Narcis drückt sich in Deckung. Templin hält es nicht aus.
„Templin! NEIN!“
Er springt auf, rennt, halb geduckt, kopflos.
Narcis schreit ihm hinterher.
Zuerst hört Templin nichts und hält auch nicht an, bis ein Bolzen an ihm vorbei zischt, jetzt bekommt er es mit der Angst zu tun. Er will umdrehen, als ihn was trifft. Der Körper dreht sich kurz. Fällt nach vorne.
„Scheiße...“
Narcis spürt ihn selbst, diesen Drang, wie eine Welle aus Übelkeit, der man nicht nachgeben darf.
Sein Truppführer schreit irgendwas. Man versteht nichts, aber der Drill ist klar. So lange sie unter Feuer stehen, schießen sie zurück. Keiner hilft einem Kamerad, solange das Feuer anhält. Für die nächste Minute gibt es nur das Gefecht. Dann Stille. Dampf. Das Tropfen der Bäume.
Die Banditen haben sich zurückgezogen. Wieder durchs Unterholz, wo sie herkamen, mindestens zu sechst, vielleicht zu siebt oder acht. Wer weiß, wie lange sie weg sind. Ob sie geflohen sind oder Verstärkung holen.
„Schnell“, ruft ein Kamerad.
Narcis atmet durch, kommt hoch, Blick zum Boden. Matsch, Hülsen, Blut.
„Bewegung nach vorne“, ruft eine Stimme, die nicht ihrem Dienstobersten gehört.
Templin liegt im nassen Gras. Die Augen offen. Narcis kniet sich daneben. Seine Hände gehen in Templins Nacken, streichen den Kopf ab, die Schultern, Achseln. Immer wieder prüft er seine Hände, aber er findet kein Blut.
„Templin, ich bin es, Iorga.“ Er spricht auf seinen Kameraden ein, der reagiert nicht, aber er macht damit weiter, zur Sicherheit oder für seine eigene Moral. „Suche nach Blutung. Keine Verhärtung am Bauch. Das ist gut, Kumpel, du hast hoffentlich keine innere...-.“
Dann fällt es ihm auf: Templin hat sich eingenässt. Kein Piss, kein Schiss, diese Regel konnte er sich sofort merken.
Narcis greift das Hemd seines Kameraden, bewegt ihn vorsichtig und prüft die Wirbelsäule. Unnatürlich weich unterhalb der Lenden. Kein Reflex, kein Muskelzucken.
Er hält inne. Seine Finger bleiben auf der Haut, bis er sie hastig zurückzieht. Alles klebt. Außerdem hat sich Templins Schließmuskel entspannt. Rückenmark.
„Scheiße, Templin“, murmelt er. Aber er lässt ihn liegen. Markiert, gemerkt. Keine Zeit für Sentimentalität. Da liegt immer noch Prescott, zu dem Templin wollte.
Er liegt fünf Meter entfernt. Scheinbar bei halbem Bewusstsein, die Waffe noch in der Hand.
„Gib mir das, Kumpel.“ Narcis spricht behutsam, als er Prescott zuerst entwaffnet. In seinen Anfängen hat er es einmal vergessen; im Wahn seiner Verletzungen hätte sein Kamerad ihn fast abgeknallt.
„Ich taste dich ab, alles klar!“ Es sollte sich wie eine Frage anhören, aber es ist keine und klingt auch nicht so.
Prescott starrt ihn von unten an, sein Gesicht ist käsig, aber auch schlickverschmiert, deshalb sehen seine Augen umso größer und weißer aus. Narcis' Hände gehen in seinen Nacken, streichen den Kopf ab. Kein Blut. Weiter. Schultern. Achseln. Hände wieder kontrollieren. Arme, Ellbogen, Hände.
Er beugt sich vor, fährt flach mit der ganzen Hand Prescotts Bauch entlang. Mehr Körperkontakt, als ihm zuletzt vergönnt war. Galgenhumor, aber der Gedanke reicht nicht für ein Grinsen, wird der Sache nicht gerecht. Hüfte. Schritt. Gesäß. Oberschenkel. Immer wieder Hände prüfen.
Er packt den Seraphen an Hemd und Hose, hievt ihn auf die Seite und streift seinen Rücken ab. Alles feucht. Erde, Schweiß, Dreck, irgendwoher Blut. Die Hände kurz an der Hose saubergewischt, damit er weiß, woher das Blut daran kommt.
„Wunde am linken Oberschenkel“, sagt Narcis laut, für sich oder den Truppführer, wo ist der überhaupt? Kümmert er sich um andere? Das Blut läuft stetig aus Prescotts Bein.
„Scheiße...“
Er hat nichts dabei. Die anderen sind beschäftigt. Es hat ihren Truppführer erwischt. Soldatin Sancak, die einzige Frau, presst etwas auf seinen Brustkorb oder Oberarm, er erkennt es nicht.
Es ratscht, Lockerheit um Narcis' Hüfte. Er hat nichts anderes, also nimmt er seinen Gürtel und wickelt ihn um Prescotts Bein, direkt über die Wunde, aus der still und dunkel immer neues Blut sickert und zieht zu so fest er kann.
"Ich weiß", keucht er, als Prescott trotz des Adrenalins reagiert. Die Geräusche, die er macht, sind abgehackt und klingen fast tierisch.
In seiner Verzweiflung klaubt Narcis den Bolzen auf, der Templin verfehlt hat, kämpft sich aus Jacke und Hemd, zerreißt den Ärmel. Den Armbrustbolzen steckt er durch den Gürtel und dreht ihn wie eine Winde, bis die Blutung nachlässt, mit dem Stoff versucht er, die sporadische Aderpresse, die er Prescott angelegt hat, zu fixieren. Der Atem vor seinem Mund sieht aus wie der Nebeldunst in seinem Kopf. Er ächzt und schwitzt vor Anstrengung. Provisorisch, aber besser als nichts.
„Halt durch“, verlangt er.
Prescott antwortet mit Röcheln. Mit Qual. Aber wer antwortet, atmet.
Mit dem Finger drückt Narcis ihm in die Wange und wölbt das Gewebe von innen, falls er Dreck, Zahnfragmente oder anderen Kram im Mund hat, an dem er ersticken könnte. Es gelingt ihm nicht gut, also fasst er ihm in den Mund und wischt ihn aus.
„Wenn du mich beißt, fängst du dir eine.“ Leere Drohung. Unnötige Drohung. Prescotts Mund ist frei, er gurgelt nur kurz. Als Narcis sein Ohr dicht daran hält, hört er ihn atmen. „So ist gut.“
Sein Puls ist schwach, aber da.
Der Boden ist kalt. Narcis hat keine Decke oder Ausrüstung. Also stopft er Jacke und Hemd, die er ausgezogen hat, unter Prescotts Rücken, bevor er noch mehr Körperwärme an den Dreck abgibt.
Seine Augen flackern. Keine Körperspannung, aber Leben.
Gibt es noch mehr Verletzte? Als Narcis sich umblickt, torkelt ihm bereits sein Truppenführer entgegen. Er schreit etwas, was dumpf und bedeutungslos in den Ohren nachhallt.
Alle versorgt. Templin können sie nicht mitnehmen. Auch wenn es schlecht für die Moral ist: Sie müssen ihn später holen. Schnell weg hier.
Narcis ist wieder bei Prescott.
„Ich zieh dich jetzt hoch, ja? Du musst dich kurz im Stand halten. Arm über die Schulter.“
Er nimmt seinen Arm, zieht die Hand an seinem Hals vorbei, bis sie auf seinem Rücken liegt. Dann geht er in die Knie, die freie Hand packt die Kniekehle des entfernten Beins.
„Zwei… drei.“
Aus den Beinen stemmt er das Gewicht seines Kameraden in die Höhe und zieht dessen Körper über die nackte Schulter, bis er quer über ihm liegt.
Das Gewicht drückt auf Nacken und Rücken, sein Atem geht kurz und schwer und stößt aus, jedes Mal, wenn der Bolzenstumpf im Gürtel gegen seine Haut schabt. Mit einer Hand stabilisiert er Prescotts Handgelenk, mit der anderen das Bein.
„Bleib ruhig, Prescott.“
Prescott ist einer der Kerle, die nichts mit ihm tun zu haben wollen. Ein Feind seiner Familie. Er kennt nicht mal seinen Vornamen.
Kleine Schritte, kontrolliert, ganze Schlammbatzen haften an Narcis' Schuhen wie klammernde Weiber und seufzen jedes Mal, wenn sie ihn wieder hergeben müssen. Jeder Schritt ist eine Entscheidung.
"Iorga, bleib stehen!" Der verletzte Truppenführer bellt ihn an, aber es ist Sancak, die ihm hilft. Sie müssen Prescott anders zurück bekommen. Gemeinsam stützen sie ihn hinter dem Rücken und unter den Knien, so tragen sie ihn im Sattel ihrer Arme. Sein verletztes Bein hängt frei.
Näher an Tonteich kommen ihnen Seraphen entgegen, rufen etwas, aber Narcis hört kaum. Nur den Atem. Nur das Gewicht.
Kameraden strömen heran, Mediziner, sie nehmen ihnen den Verletzten ab.
"Zieh dich an, Iorga. Du kühlst aus."
Aber er fühlt sich überhitzt.
Kurz denkt er an Templin, und daran, dass er liegenblieb.
Manche Entscheidungen trifft man, und sie bleiben im Körper.
Er wird später darüber nachdenken. Nicht jetzt. So wie darüber, ob er nur die Seraphen kannte oder auch die anderen.