
Irgendwo in Götterfels, am späteren Abend...
TRIGGERWARNUNG: Gewalt, Brutalität, Blut, Beschimpfungen, Zerstörung
Klebrig dichter Rauch hing im Schankraum, der durchtränkt war von Stimmengewirr und Gelächter. Von Zeit zu Zeit drang das Klirren von zusammenstoßendem Glas an die Ohren. Die Luft war stickig und schien bereits Konsistenz annehmen zu wollen. Vor Ismena stand ein Glas, bei dem der Wirt sich zweifellos große Mühe gegeben hatte den vorhandenen Dreck der letzten Jahrzehnte gerecht darauf zu verteilen. Noch viel faszinierter war die junge Frau jedoch vom Holz der Tische und Bänke. Über die Jahre hatte dieses eine Art ölige Versiegelung bekommen – ganz allein durch die diversen Flüssigkeiten, die man geflissentlich darauf verteilt hatte und den klebrigen Rauch, der beharrlich in der Luft hing. Falkhardt fragte sich nicht zum ersten Mal, ob hier jemals ‚gelüftet‘ würde. Irgendwo knisterte das Feuer eines schäbigen Kamins vor sich hin, es krachte – bei einem der intensiveren Wortgefechte kam eine der Bänke geräuschvoll zu Fall.
Und doch nichts, was den Weißschopf etwas angehen sollte. Jetzt gerade nicht. Sie war auf der Suche nach jemandem, einem Kontaktmann.
Während sich irgendwo zwischen sinkender Zustimmung und steigendem Alkoholpegel eine handgreifliche Auseinandersetzung anbahnte, hockte Ismena halb in sich zusammen gesunken der Situation schräg gegenüber an einem der kleineren Tische an der Wand. Scheinbar desinteressiert wurde der Inhalt ihres Glases wieder und wieder herum geschwenkt. Ganz in der Körpersprache einer Person, die einem mit dem Blick am Glasboden vermittelt: 'Wieso mache ich diesen Job überhaupt noch? Wozu soll ich morgen überhaupt aufstehen? Sprich mich bloß nicht an und guck nicht zu lange. Sonst erzähle ich dir all mein Leid.'
Eine Tarnung freilich, die bisher anstandslos funktioniert hatte.
Denn eigentlich hatte die Gefreite Falkhardt jene alkoholisierten Pöbel schon seit einigen Abenden im Visier. Die letzten Tage hatten sich scheinbar ereignislos mit Beschattungen und viel Warterei gefüllt. Gerade Letzteres lag der jungen Frau nicht gerade im Blut und gestaltete die Aufgabe als besonders herausfordernd.
Am dritten Tag jedoch hatte sie das Ziel endlich ausfindig machen können – offenbar hatte er sich rekrutieren lassen müssen, um die Tarnung nicht zu gefährden. Daher keine Treffen, keine Meldungen, kein Kontakt. Und doch hatte er genug Unvorsicht wallten lassen, dass sie ihm hier her hatte folgen können. In aller Seelenruhe. Abend um Abend.
Er wusste, dass sie hier sein würde. Es hatten sich die immer gleichen Treffpunkte mit immer gleichen Personen herausgestellt. Und ihr Job war es nun heraus zu finden, wo die Ware übergeben wurde - bestenfalls noch wann. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, wenn diese Vollidioten sich jetzt nur die Visagen blutig schlugen und nichts abklären würden.
Ihr darauf folgendes Seufzen hätte genau so gut von tiefem Selbstmitleid zeugen können – passte somit perfekt in die Rolle, die sie spielte.
Natürlich hätten die Seraphen die ganze Truppe auch überrennen und festnehmen können – mit nichts als Indizienbeweisen und Vermutungen.
Je länger Ismena diese Männer beobachtete, umso unwirklicher erschien ihr die Annahme, dass dies hier die Köpfe hinter einer Reihe von gut organisierten Straftaten waren. Und genau deswegen war sie auf den Plan gerufen worden. Allein, ohne Uniform, unauffällig.
Während im hellen Schopf der Plan erneut rekapituliert wurde, legte sich der Schatten einer Person von hinten über ihren eigenen. Einige Sekunden zu lange, um zufällig zu sein.
"Oh - Welch angenehme Überraschung. Wieder einmal Ausgang bekommen, wie ich sehe? Oder musstet Ihr euch heimlich davon schleichen?"
Ismena zuckte zusammen, ob es nun war, weil man sie aus ihren Gedanken gerissen hatte oder die Stimme ihr eine unwohle Gänsehaut in den Nacken trieb? Nicht, dass die Worte besonders laut gesprochen worden wären oder schneidend gar. Im Gegenteil. Der Tonfall vermittelte die pure, schleimige Beiläufigkeit, ganz als wäre man von der angenehmen Überraschung einer Begegnung erfreut.
Ismena gegenüber hatte nun der Mann mittleren Alters, dem genau diese Stimme gehörte, Platz genommen. Gekleidet in einen abgetragenen Anzug, der ihn wie einen Taschenspieler wirken ließ, der seine besten Tage bereits gesehen hatte. Hoch gewachsen und doch auf eine drahtige Weise muskulös war der Kerl. Das kurze, dunkle Haar war ordentlich frisiert, der Blick aus stechenden Bernsteinaugen fixierte zunächst Ismenas beinahe geleertes Glas, dann das eigene gut gefüllte Glas in der rechten Hand. Dabei kräuselte ein halbherziges Lächeln seine Mundwinkel.
„Bitte sagt mir, dass es schlimmer aussieht, als es ist.“
Endlich hatte sich die junge Frau zu Worten durchgerungen, obgleich in ihrer Miene unverkennbare Zweifel und ein nicht minderes Maß an Ekel standen. Der Ursprung ihres Zweifelns mochte das offenbar noch intensiver verkrustete Glas in der Hand des Mannes sein.
„Man möchte annehmen, dass Ihr bereits Schlimmeres probiert hättet, nicht wahr?“ In den Iriden des Mannes funkelte belustigte Provokation.
„Hmpf.“ Zweifelnd beäugte sie zuerst den goldenen Inhalt seines Glases, dann den schmierig verkrusteten Rand.
„Alkohol tötet bekanntlich das Meiste ab. Wann seid Ihr so zimperlich geworden, meine Liebe? Mir scheint Eure adligen Abstecher haben Euch verweichlicht werden lassen. Oder wartet – soll ich Euch zunächst das Hinterteil pudern?“ Nun hatte sich in die Provokation eiskalter Spott gemischt.
„Ich verzichte dankend. Auch, wenn ich Euer Interesse an meiner Kehrseite durchaus nachvollziehen kann – erst kurz vor unserem Treffen habe ich mich bestens neu gepudert.“ Aalglatt und nicht minder provokant kam die Entgegnung von Falkhardt, während ein Lächeln auf ihrer Miene klebte, das dem einer Person gleichen mochte, die gerade einen Primaten dabei betrachten musste, wie dieser mit Exkrementen künstlerische Höhenflüge erlebte.
„Nein – sagt nichts. Welch gramvolle Verfehlung meinerseits. Man bedient Euch natürlich. Einen Moment, Mylady.“ Damit ließ er das eigene Glas auf dem Tisch vor Ismena stehen, um in der immer lauter gröhlenden Meute zum Tresen zu verschwinden und Minuten später mit einem neuen, gut halbgefüllten Glas zurück zu kehren. Identisch zu dem Seinen war der goldgelbe Inhalt darin. In einer übertrieben förmlichen Geste ‚servierte‘ der Mann das Getränk, dessen alkoholische Prozente weit über der Zahl des Alters der Weißhaarigen Frau liegen mochten. Er hatte es wohl tatsächlich ernst gemeint, was die desinfizierende Wirkung des Alkohols anbelangte.
„Offensichtlich habt Ihr euch bereits bestens in die adligen Gepflogenheiten eingefügt – angenehm, wenn man auf Schritt und Tritt bedient wird, nicht wahr?“
Er plauderte einfach weiter, als wäre er nicht die störende Variabel in dieser Gleichung. Mittlerweile hatten die Hände des Mannes auf der Tischplatte Platz gefunden, wo sie wie beiläufig mit einem winzigen Messerchen spielten, zu breit war die Klinge, um noch als Skalpell durchgehen zu können, die Länge mochte passend sein. Er musste es heraus geholt haben, als Ismenas Blick auf der sich zuspitzenden Rauferei lag. Verdammte Scheiße. Das war unpassend. Wie sollte sie so an die benötigten Informationen kommen? Ismena wusste schmerzlich sicher, dass man Cainard nicht loswerden konnte – umgekehrt – Er wurde einen los, wenn man seinen Nutzen verloren hatte.
„Ich muss Euch ein weiteres Mal enttäuschen. Ich werde nicht stets und ständig bedient. Tatsächlich verbringe ich meine Tage mit Arbeit und die meisten Nächte auch. Überraschenderweise verbleibt mir dabei kaum Zeit nachts beim Schlafen bedient zu werden. Wirklich bedauerlich, wenn ich es so überdenke.“
Die Stimme der weißhaarigen Seraphin hatte eine tief sarkastische Tonlage angenommen. Ganz unverkennbar nagte die überheblich provokante Art des Kerls bereits wieder an ihrem Nervenkostüm.
Cainards Aufmerksamkeit lag gänzlich auf den Reaktionen seiner Gesprächspartnerin. Es amüsierte ihn, wie leicht Ismena durch bloße Unterstellungen und unterschwellige Provokation zu beeinflussen war. Er steckte hier und dort eine metaphorische kleine Nadel in das dicke Fell, was Falkhardt der Welt präsentierte - nur um zu beobachten, wie sie darunter zuckte und versuchte sich dem Unwohlsein zu entledigen. Gleichermaßen entging ihm natürlich auch nicht ihr verzweifelter Versuch den Ursprung des Tumultes in seinem Rücken zu verfolgen. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz offensichtlich jemand anderem, als ihm. Aber das würde er zu ändern wissen.
„So? Die Tage und die meisten Nächte? Dann müsst Ihr ja wahrlich furchtbar überarbeitet sein. Kein Wunder, dass Ihr unsere Treffen so unglücklicherweise offenbar immer wieder nicht wahrnehmen konntet.“
Cainards Tonfall triefte nur so vor Sarkasmus und heuchlerischem Verständnis. Er hatte sein Messerchen wieder im Saum des Ärmels verschwinden lassen, um die langen, kräftigen Finger ineinander zu verschränken. Eine Geste, die üblicherweise folgendes signalisieren sollte: Ich nehme mir Zeit und schenke dem Gegenüber meine volle Aufmerksamkeit. In diesem Fall jedoch setzte der Mann damit gleichermaßen selbige Anforderungen an Ismena. Und die würde sie nicht erfüllen. Noch immer huschte der Fokus ihrer verengten Pupillen zwischen der Gruppe sich streitender Männer hin und her. Die Frau war abgelenkt und konnte sich deshalb den missmutig hinunter zuckenden Mundwinkel nicht verkneifen. Natürlich nicht – Cainards Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Und doch versuchte sie ausweichend zu antworten.
„Nun, das Verbrechen ruht nie. Das muss ich Euch wohl kaum darlegen.“
Krach.
Eine mächtige Faust knallte auf einem der Tische nieder. Einen Wimpernschlag später klirrte ein erster Humpen zu Boden. Gefolgt von wütenden, aber durchaus kreativen Beleidigungen. Zwei bullige Kerle gingen sich gegenseitig an den Kragen.
„Vor nicht all zu langer Zeit habt Ihr mich noch wieder und wieder um Rat angesucht. Bin ich Euch etwa nicht mehr nobel genug? Mein Blut nicht blau genug? Oder fürchtet Ihr euch gar vor dem Gram des Misserfolges?“
Wie eine Nadel nach der Anderen bohrten sich die Worte in Ismenas Ego. Ihre Fingerspitzen zuckten zu einer verkrampften Faust, die Augen wurden weiter geschmälert. Für einen Moment durchbohrte ihn ihr eisblauer Blick nahezu. Diesmal ohne eine direkte Erwiderung an Cainard. Ihm war dies ein inneres Fest. Ganz offenbar trug ihre Arbeit nicht die erwünschten Früchte – mehr noch. Er schien sie hier bei etwas zu stören, worüber sie ihn allerdings ums Verderben nicht in Kenntnis setzen wollte. Und allein dafür würde er sie heute zappeln lassen. Hinzu kam, dass Ismena es über Wochen, Monate gar geschafft hatte, ihm immer wieder wie ein glitschiger Fisch durch die Finger zu gleiten. Seit sie mit diesem anderen Seraphen zusammen ins Anwesen irgendwelcher Bankiersschnösel eingezogen war, war er kaum mehr unbemerkt in ihre Nähe gekommen. Überall lungerten Personal und mehr noch – hauseigene Söldner herum, die penibel jeden Eingang im Auge hatten. Ihm war es sogar so vorgekommen, dass sich das Aufgebot der Wachen zwischenzeitlich deutlich erhöht hatte. Was auch immer dort vorgefallen war – Cainard würde später jedes noch so kleine Detail aus Ismena herauskitzeln. Niemand versetze Joshua Cainard. Niemand hatte Geheimnisse vor ihm. Niemand entkam ihm. Und vor allem: niemand führte ihn an der Nase herum. Natürlich war Cainard hier nicht zufällig aufgetaucht. Es hatte ihn einige Tage Beschattung gekostet, um Falkhardt heute Abend in dieser Spelunke abfangen zu können. Dafür würde er nun jeden Augenblick ihrer Unterhaltung vollends auskosten. Das Spiel ihrer Mimik war bereits eine köstliche Vorspeise.
„Nun, wisst Ihr, meine Liebe, wir sollten diesen glücklichen Zufall unseres Zusammentreffens mit einem Umtrunk feiern. Der Drink geht natürlich auf mich. Kommt schon, ein Schluck Schnaps beruhigt die Nerven. Oder ... Seid Ihr plötzlich eine Stock-im-Arsch-Spaßbremse geworden?“
Ismenas Blick zuckte von den miteinander ringenden Kerlen zu Cainard zurück. Man konnte behaupten darin Funken sprühen zu sehen. Leise schnaubend, lösten sich die zur Faust gepressten Finger, um das Glas zu fassen, das der Dunkelhaarige kurz zuvor so ehrenhaft spendiert hatte. Ihre eisblauen Augen durchbohrten ihn geradezu, als das ranzige Glas in einem Ruck erhoben und an die Lippen geführt wurde.
„Ich hoffe es brennt Euch die lächerlich spitze Zunge aus der Fresse, Cainard.“
Damit setzte die Soldatin an und kippte gut die Hälfte des Getränks in einem Zug. So, wie sie ihre Augenlider zusammenkniff, hatte sie große Mühe nicht zu husten – der Fusel musste gleichermaßen hochprozentig und widerwärtiger Qualität sein.
„Prost, mein Vögelchen.“
Der Mann selbst erhob in ruhiger, geschmeidiger Bewegung das eigene Glas, nippte daran und gab sogleich die Visage seines breiten Grinsens preis. Natürlich hatte die Provokation funktioniert, das tat sie immer. Und es brachte ihm tiefe Genugtuung diese Macht Mal für Mal wieder ausspielen zu können. Sein gedanklicher Siegeszug wurde durch den lauten Aufschrei eines Kerls unterbrochen, dem gerade ein Teil des hölzernen Mobiliars über den Schädel gezogen worden war. Die anfängliche Rangelei hatte sich zu einer handfesten Schlägerei entwickelt. Es flogen Humpen, Fäuste, Stiefel – krachend brach ein Tisch in zwei, als jemand nach einer kräftigen Kopfnuss darauf landete. Cainards Brauen wanderten interessiert nach oben. Noch höher sogar als er sich wieder umwandte und registrierte, das Ismena sich voller Tatendrang erhoben hatte. Neben ihr war jemand mit blutiger Nase zu Boden gegangen, beinahe zeitgleich zischte ein Glas an ihrem linken Ohr vorbei – und zerschellte an der Wand hinter ihr. Die weißhaarige Frau machte einen Schritt von der Bank weg, nur um sich im letzten Augenblick unter einem Fausthieb weg zu ducken, der ursprünglich sicher nicht ihr gegolten hatte.
„Verbrannte Yakscheiße nochmal....“
Ihr Fluch ging im anschwellenden Lärm unter. Ein genervtes, beinahe grollendes Knurren entwich ihrer Kehle. Dann griff sie kurz entschlossen nach dem spendierten Getränk, kippte den Rest hinunter und stellte es geräuschvoll wieder auf der Tischplatte ab. Einen Augenblick später knallte an genau dieser Stelle der bewusstlose Körper eines Mannes auf ihren Tisch. Das folgende, ekelhafte Geräusch ging im Tumult unter. Lediglich Cainard verzog gespielt mitleidig die Visage, hob dabei betont unschuldig die Hände auf Brusthöhe.
„Urgh, das gibt böse Narben. Aber keine Sorge, eitert bestimmt schnell raus.“
Ismena hörte ihm das Amüsement an. Und das brachte sie innerlich noch mehr zum Kochen. Der fuselige Schnaps in ihren Venen ließ ihre mentale Lunte noch schneller abbrennen, als der Brandbeschleuniger Cainard es ohnehin schon vermochte. Und dann ging plötzlich alles sehr schnell. Ehe sich die Soldatin versehen konnte, flog eine Faust an ihr vorbei, jemand stieß sie mit dem eigenen Körpergewicht zur Seite und Falkhardt war ein Teil dieser Kneipenschlägerei geworden, von der Reisende noch Monde später aufgeregt berichten würden. Wenn sie das Feuer und den Abend überlebt hätten.
Schreie, splitterndes Holz, klirrendes Geschirr – krachende Knochen. Irgendjemand brüllte nach Seraphen, doch Falkhardt hatte damit zu tun sich selbst zu behaupten – und selbst stehen zu bleiben. Immer dann, wenn sie versuchte aus der Schlägerei heraus zu kommen, zerrte, stieß oder schubste irgendjemand ihren Körper zurück aufs Schlachtfeld. Also bewies die junge Frau ein erstaunliches Talent für das Überleben im unterlegenen Faustkampf – jeder gegen jeden.
Cainard selbst betrachtete dieses Schauspiel mit stetig wachsender Belustigung. Tatsächlich hätte er hierauf wetten sollen. Wie bedauerlich, dass es nunmehr keinen geeigneten Wettpartner mehr gab. Während er in den letzten Tagen zunächst nur Ismena beschattet hatte, war ihm selbstredend nicht entgangen, dass sie ihrerseits jemanden zu beschatten versuchte. Jemanden, der ganz offensichtlich genau das gewollt hatte. Cainard war auch diesem Kerl gefolgt, viel weiter als Ismena es zu tun vermocht hätte. Im Gegensatz zu ihm konnte sie nicht mit den Schatten verschmelzen, wie die Spinne im Netz warten und dann zuschlagen, wenn das Opfer sich am Sichersten fühlte. Cainard hatte seine Schlüsse aus Gesprächen und Beobachtungen gezogen: Das hier war der Schlägertrupp einer weit größeren Gruppierung, die tief vernetzt in den Schatten agierte. Schatten, die einen verschlangen, wenn man zu neugierig hinein spazierte. Und natürlich hatte Ismena Falkhardt genau dafür ein Talent. Sich in Probleme zu stürzen, die sie eigentlich gar nichts angingen. Und genau deswegen war Cainard heute Abend hier aufgetaucht. Um ihr, einmal mehr, den hübschen Arsch zu retten und seine lang überfällige Gegenleistung endlich einzufordern. Er war vorbereitet. Natürlich, schließlich hasste er spontane Planänderungen. Und genau deswegen lagen seine bernsteinfarbenen Augen unentwegt auf dem Tun rund um Ismena, ganz so, als erwartete er etwas. Beiläufig fischte der Dunkelhaarige eine Taschenuhr aus dem Frack, warf einen Blick darauf und ließ sie zurückgleiten.
Mittlerweile hatte sich beinahe der gesamte Schankraum in eine einzige Kampfgrube verwandelt. Es war nicht mehr möglich auszumachen, wer gegen wen kämpfte und warum. Doch dann geschah, was geschehen musste: jemand warf in törichter Trunkenheit eine Flasche des gelben Fusels, den Ismena und Cainard zuvor noch verköstigt hatten. Das Ziel duckte sich in einem Anflug von Umsichtigkeit – und die Flasche zersprang klirrend am Backstein des Kamins. Was folgte, war eine einzige Flammenwolke, die Meterweit durch den Innenraum tanzte und alles in Brand steckte, was sie sich einverleiben konnte.
Jetzt war ein guter Zeitpunkt mit Falkhardt zu verduften, befand Cainard.
Es nahm einige Augenblicke in Anspruch den Weißschopf in der wütenden Menge zwischen all dem Rauch, Körpern und Geschrei ausfindig zu machen. Aber schließlich hatte er sie gefunden, drängte sich zu ihr durch und packte Ismena an der Schulter.
„Zeit zu verschwinden, es wird langsam ungemütlich, meine Teuerste.“
Falkhardt dachte nicht daran jetzt mit Cainard zu gehen. Mit einem Ruck entkam sie einem Griff und funkelte ihn erbost an.
„Auf keinen Fall. Wir müssen die verdammten Leute hier raus bringen.“
Eine Faust sauste heran – die Seraphin fing sie ab, verdrehte den Schlagarm des Angreifers und ignorierte das Winseln für den Moment.
„Raus hier, sofort!“ Blaffte sie in dessen Richtung und zu jedem, der sie irgendwie wahrnahm.
Cainards Kauleisten hingegen knirschten in wachsender Unzufriedenheit. Eine unangenehme Unruhe ergriff ihn, das war nicht der Plan gewesen.
„Richtig, wir müssen vor allem uns hier raus bringen. Also vergesst Euren edlen seraphischen Heldenmut und schafft Euren Arsch hier raus.“
Mittlerweile war die Stimmlage des Dunkelhaarigen nicht mehr nur drängend, gar zu einem Knurren geworden. Kontrollverlust. Er hasste es nicht Herr der Situation zu sein.
„Dann schafft Euch raus, Cainard. Ich werde diese Menschen hier nicht verrecken lassen. Im Gegensatz zu Euch habe ich ein Ziel, wofür ich kämpfe, feiger Hund.“
Ismena achtete nicht mehr auf Höflichkeiten. Der pure Adrenalinkick des Überlebenswillens bewegte ihre Gliedmaßen, stieß Leute in Richtung Tür, wich Schlagen und fliegendem Mobiliar aus.
Cainard folgte ihr auf den Fuß.
„Ich kämpfe für mein Ziel, aber ich sterbe nicht dafür.“
Ein bitteres Grinsen ließ das Gesicht des Mannes wie eine verzerrte Fratze wirken.
Ein weiterer Faustschlag – Ismena sah ihn. Aber der Körper wollte sich nicht bewegen. Ein Empfinden, wie zähes Pech, das den Körper lähmte, nach unten Zog. Für einen Augenblick tanzten dunkle Punkte vor ihrem Sichtfeld. Was in Balthasars Namen war das? Der Rauch? Nein – so dicht war die Luft noch nicht. Ismena kam taumelnd auf die Füße – Cainard hatte sie hochgezogen, einen Arm um ihre Schulter gelgt und stützte den schwerer werdenden Körper der Seraphin.
„Was... Beim Reich der Qual..?“ Brabbelte diese vor sich hin, während Cainard sie beide zum Hinterausgang dirigierte. Vor der Spelunke hatten sich mittlerweile Seraphen und Gaffer versammelt, die versuchten sowohl die Leute hinaus zu bringen, als auch das Feuer zu löschen.
„Wir beide machen jetzt einen kleinen Ausflug, bis Ihr wieder ausgenüchtert seid. Aber ich muss schon sagen – Ihr habt Euch beachtlich lang gehalten.“
Die Stimme des Gauners triefte nun wieder vor schmieriger Überlegenheit.
Es bereitete Ismena starke Probleme ihre Gedanken zu fassen zu bekommen und danach in Worte zu formulieren.
„Was...habt Ihr..? Urgh...Arschloch.“
„Oh bitte, meine Liebe. Grämt Euch nicht. Das Zeug hat schon ganze Muskelberge umgehauen. Wisst Ihr, ich habe es von einer sehr fähigen Giftnatter. Wirklich, sie hatte ein unglaublich praktisches Händchen für dererlei Tinkturen. Schade nur, dass sie zu neugierig wurde, wirklich. Da überlebt man eine Flucht aus Elona und scheitert dann an den simpelsten Regeln der Unterwelt. Ich wünschte, ich hätte sie jemals nach ihrem Namen gefragt. Bedauerlich.“
Cainards doppeltes Geständnis änderte nichts daran, dass sich der Nachthimmel in Ismenas Sichtfeld gefährlich zu drehen begann. Wie zum Henker konnten ihre Beine überhaupt noch laufen? Und dann wurde es ganz plötzlich still und unfassbar dunkel, jegliches Gefühl wich aus ihrem Körper und die Welt löste sich auf? Tief in ihren Erinnerungen nagte die Gewissheit, dass sie dieses besondere Gefühl bereits schon einmal gespürt hatte.
Aber es gelang ihr nicht, diesen Gedanken zu fassen.
„Gute Nacht, Vögelchen.“ War das Letzte was der Weißschopf wahrnahm, ehe die Dunkelheit sie verschlang. Und das sogar wortwörtlich. Denn dort, wo sie in einer schäbigen Seitengasse in den von Nieselregen verdeckten Götterfelser Nachthimmel getreten waren, führten keine Fußspuren hinaus.
.... Fortsetzung folgt
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