Der Flug zur Sonne - Eintrag 4

[Sonne-Playlist]


Eintrag 4, Tag 2


Wir haben die erste Nacht hinter uns. Und ich hatte direkt einen seltsamen Traum: Ich lag da, in totaler Finsternis. Ich sah die Sonne am Himmel leuchten, doch sie beleuchtete die Schwärze nicht, sie war einfach da. Ich streckte meine Arme aus, um ihre Umrisse, meinen Schatten zu sehen. Die Sonne war so groß, dass ich meine beiden gestreckten Unterarme erkennen konnte. Ich spürte meinen Herzschlag. Bei jedem Schlag pulsierte die Sonne ganz sanft. Dann fühlten sich meine Arme seltsam an, als wären sie mit einem mal mehr. Sie wurden länger.
Sie waren so leicht, es kostete mich keine Anstrengung, sie hochzustrecken. Auch meine Finger wurden länger, als sie mit den Armen wie Bäume und Äste zur Sonne hinaufwuchsen. Es war unheimlich, aber ich hielt sie weiter zur Sonne gestreckt. Sie mussten nun meilenweit gewachsen sein! Ich spürte Wärme in den Handflächen, als ich versuchte, die Sonne zu umfassen. Sie lag jetzt zwischen meinen Händen, es wurde heißer, bis die Handflächen vor Hitze wehtaten. Ohne das ich es kontrollieren konnte, klatschte ich mit einem mal in die Hände. Es brannte einen Moment, aber dann war ich wach.
Es war dunkel im Zimmer und ich wusste erst nicht, was geschehen war. War das eben wirklich passiert? Denn ich bemerkte, dass ich wirklich mit den Händen in die Luft geklatscht hatte. Unter mir in der Koje ging ein Öllämpchen an und eine tiefe Stimme murmelte freundlich und müde: „Was ist los, Maus?“
Das war Rollo Dampfkrug, von der Eisenlegion. Er kümmerte sich um unsere hitzefesten Golemanzüge, die allerdings erst auf der Sonne zum Einsatz kommen würden. Daher hatte er auf der Reise kaum was zu tun, weshalb er gerne schlief, las und aß.
Ich öffnete meine Hände. Eine zermatschte Sumpffliege klebte an meinen Handflächen. Die war mir wohl aus Rylas Garten gefolgt...
„Hier war 'ne Fliege.“
„Und? Erwischt??“
„Mhm.“
„Im Dunkeln??“
„Mhm.“
„Nicht schlecht!“ Der Charr lachte leise, zumindest für einen Charr leise, dann hörte ich die Bewegungen seines massiven Körpers. „Danke für's Wecken, ist echt langsam Zeit.“ Ich schaute über den Rand meiner Koje. Sie waren alle zweistöckig. In dem Raum hier war noch Platz für ein Dutzend andere. Wenn wir dann später die Wohnwürfel bewohnen würden, sollte die Zusammenstellung der Zimmer dann wieder ganz anders aussehen. Nizpi wollte aber nicht, dass die Würfel vorher schon benutzt wurden.
Ich hüpfte von der Koje, Rollos braune Zottelmähne verschwand schon in Richtung Kantine.


Die Kantine lag backbord hinter der Steuerkanzel und war recht lang, ebenso wie das lange Aussichtsfenster und die drei Tische, die von Stühlen verschiedener Größen umstellt waren. Sechsunddreißig Plätze, vielleicht fünfundzwanzig davon besetzt.
Die Kantine war schick eingerichtet, alte Löwensteiner Art. Dafür war Inke zuständig gewesen, eine Norn aus Löwenstein. Sie war weitbekannt für ihre Berge von Gold und Oberweite, ihre traditionsreiche Taverne und ihr Mundwerk. Aber sie hatte sich nicht einfach in die Sonnenkru eingekauft, sie regelte die Versorgung der Kru. Dazu gehörten nicht nur Planung von Essen und Trinken, sondern eine gemütliche Atmosphäre, damit man über die Monate nicht durchdrehte.
Jedenfalls erinnerte die Ausstattung an eine Mischung aus Inkes Wirtschaft und dem Krähennest in Löwenstein. Der Raum verjüngte sich sanft nach oben, ganz wie ein umgedrehtes Schiff. Der Boden und die Decke waren mit rotbraunem Holz ausgekleidet, die Wände waren hell, mit reichlich Malereien verziert. Ein altes Bild eines Sonnenunterganges in einer roten See füllte die Wand, die Richtung Heck lag. Und Richtung Bug ein orangegelber Sonnenaufgang, dem ein kleines schwarzes Luftschiff entegegenschwebte. An den Seiten, wo gerade kein Aussichtsfenster war, prangten Bilder von allerlei Meeresgetier und Trophäen. An der Decke hingen Boote und Paddel, Fischernetze und eine goldene Gallionsfigur, die irgendwie an Inke erinnerte. Dazu kam Dinge wie ein ausgestopfter Tiefseeskorpion und ein Karkaschädel. Der Raum strotzte nur so von Löwensteiner Ausstattung, unsere Lampen waren Fische am Haken, Tische erinnerten an Boote und die Stuhllenen bestanden aus echten, alten Muscheln, für die Sammler viel Geld zahlten. Aber Inka war so unverschämt reich, sie spendierte es einfach.
Hier konnte man sich wirklich wohl fühlen.


Den Tisch teilte ich mir mit Rollo, Rikken, den beiden Quaggan, den zwei Hylekgeschwistern, den drei anderen Menschen, und den zwei Sylvari von den Gärten. Zina, die dritte Sylvari, war ja für das Essen zuständig, sie stand hinter der altmodisch und zugleich modern wirkenden Küche. Heute gab es Hähnchen und Reis in gelber Soße!
Es waren frische Hühnchen, zur Feier des Tages geschlachtet. Das hatten wir Inke zu verdanken. Sie hatte sich gegen die Magisterin durchgesetzt und einen Haufen Hühner und Schweine mitgebracht. Es gab viele Gründe, keine Tiere mitzunehmen, zum Beispiel wollten die selber fressen, machten Dreck und würden von sechsunddreißig Wesen schnell verputzt sein. Doch die Norn hatte darauf bestanden. „Nizpi, ich nehm' die Viecher da jetzt einfach so mit.“, hatte ich sie damals sagen hören.
Niemand hatte mehr Erfahrung von Schweine- und Hühnerhaltung auf Luftschiffen als Inke. Ihre Gründe drehten sich vor allem um Geschmack: Erstens schmeckte frisch geschlachtetes besser, und zweitens würde der massige Vorrat an Trockenfleisch, um den sie sich ebenso kümmerte, irgendwann 'langweilig' werden. Frisches Fleisch sei wichtig 'für die Seele und überhaupt'. Irgendwie hatte Nizpi dann zugestimmt.
Zina war das mit dem Fleisch nur recht, sie war eine gute Köchin. Als ich sie suchte, bediente sie gerade einen kahlköpfigen, jungen Norn von den Wachsamen, mit dem sie plauderte. Er war wohl recht kurzfristig dem Trupp zugeteilt worden und dort nun der 'Neue'. Zina verstand sich sehr gut mit ihm. Die anderen, 'altgedienten' Wachsamen hingegen...die blieben unter sich.


Genau zwölf Wachsame waren es und sie belegten einen kompletten Tisch. Ein Drittel der kompletten Besatzung! Unser Tisch stand in der Mitte, wir waren praktisch der Puffer zwischen den Wachsamen und der Führungsriege. Sicher, auf der Sonne konnte es gefährlich sein und erfahrene Kämpfer würden da nicht schaden. Man wollte auf alles vorbereitet sein, zumindest wenn es nach dem Völkerrat ging. Magisterin Nizpi allerdings war strikt dagegen gewesen, nur ihre ausgewählte Kru sollte mitkommen. Jetzt hatte sie aber nicht mal die Befehlsgewalt über die Zwölf, obwohl das hier ihre eigentlich Expedition war. Der Völkerrat hatte sei bei dieser Entscheidung übergangen, sie wollten ihren Einfluss in dieser wichtigen Mission haben. Daher hatte die Magisterin auch beschlossen, die Zwölf möglichst zu ignorieren.
Sie konnte die Zwölf einfach nicht gebrauchen. Zwölf weitere Wesen an Bord verringerten die Vorräte und den Platz um eine gute Menge...und verkürzten somit die Zeit, die wir auf der Sonne sein und forschen konnten.
„Wir fliegen nicht auf die Sonne, um sie zu unterdrücken.“, hatte Nizpi gesagt. Damit spielte sie auf die Bewaffnung der Wachsamen an: Sie trugen stets ihre Waffen mit sich. Schwerter und Schusswaffen, die wohl vor allem dazu gemacht waren, Wesen aus Fleisch und Blut zu schaden.
Seit dem sie das wusste, trug sie selber eine Pistole mit sich.


Ich löste mich von diesen Gedanken. Gerade knabberte ich herzhaft an dem Hühnerkeulchen herum und schaufelte den Reis nur so in mich hinein. Genau wie alle anderen! Der Hunger war groß gewesen, daher auch dieses ungewöhnliche Frühstück. Nur zwei ließen sich mit dem Essen Zeit: Lady Xiaoqing und ihr junger, kahlköpfiger Leibwächter. Behutsam nutzten sie das Besteck, nichts ging neben den Teller. Den Reis aßen sie ganz gemütlich mit ihren Holzstäbchen. Selbst jetzt war die canthanische Götterpriesterin weiß geschminkt, das schwarze Haar kunstvoll hochgesteckt. Ob der Leibwächter das machte? Er war der einzige, der in ihrer Nähe blieb, aber von Haaren schien er nicht so viel zu halten. Statt einer Frisur zierte eine feine, schwarze Tätowierung seinen kahlen Schädel. Es waren Schlangen oder Drachen oder Schriftzeichen, irgendwas canthanisches. Das sah gar nicht mal schlecht aus, da brauchte man ja keine Frisur. Die Tätowierungen gingen auf seinen Armen weiter, er trug jetzt eine ärmellose Tracht. Er sah wirklich aus, als hätte er ordentlich Kraft. Scheinbar auf sein Essen konzentriert zu sein, ohne aufzusehen, sprach er mich an.
„Was schaust du mich so an?“, kam es ganz neutral von ihm, während er weiter aß.
Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass er mich meinte. Ich antwortete mit einem „Öhm“. Durch das halbe Huhn zwischen meinen Zähnen klang das noch weniger galant. Ich überlegte gerade, was ich noch sagen sollte, als es plötzlich laut wurde. Ich sah, wie die Wachsamen gegenüber aufstanden und aus dem Fenster blickten, um mich herum hörte ich überraschte „Oh!“-Laute. Manche waren ebenso verwirrt wie ich und blickten sich um.
Da die überraschten Gesichter alle aus dem Backbordenster schauten, drehte ich mich um....und da, hinter dem Glas, sah ich ihn. Oder es. Es war ein wirklich wunderschönes...Dings.


Ich werde es euch später genauer beschreiben, aber jetzt erwarten mich die Quaggan.