Der Flug zur Sonne - Eintrag 36-39

[Sonne-Playlist]



Eintrag 36, Tag 38


Die Wohnwürfel hatte ich schon alle in den Unterseeübungen kennengelernt, doch damals fehlte es an persönlicher Einrichtung. Und natürlich auch an anderen Bewohnern. Da die Wohnwürfel aus praktischen Gründen nach Völkern aufgeteilt waren, wohnte ich wie bereits erwähnt zusammen mit Lady Xiaoqing, ihrem Leibwächter und Rugo von Sternling. Die Wachsamen bezogen eigene Wohnwürfel.


Hier war die Note der Lady Xiaoqing überall zu entdecken. Die Einrichtung erinnerte an den Aufenthaltsraum, alles war sehr canthanisch gehalten. Wie in jedem Würfel gab es hier eine Wand, die vollständig durchsichtig war. Sie war aus starkem Verdunkelglas hergestellt und von einem asurischen Magiefeld verstärkt. In Notfällen konnte man diese Wandfenster mit einer Platte aus Aanicarium verschließen, beispielsweise wenn ein Kraftfeld versagte und die Sonne sich durch das Glas schmolz. Doktor Pynzos versicherte aber, dass soetwas noch nie vorgekommen war. Die Schutzvorrichtung diente lediglich dazu, 'Vertrauen in denen zu wecken, die Technik unverständlicherweise für zuverlässiger halten als Magie'.


Die übrigen Wände waren bereits gepflastert mit den verschiedenen Werken der Götterpriesterin. Kunstvolle Kalligraphien, Landschaften aus Tyria und Cantha und seit neustem auch verträumte Bilder der verschiedenen neuen Wesen, denen wir bisher auf unserer Reise begegnet waren. Und natürlich gab es auch das typische Mobiliar, die Musikinstrumente und die Papierwände. Wir hatten sogar kleine bunte Bäumchen.
Ich war doch recht froh über den großen Einfluss der Lady. Hätte man Rugo den Raum einrichten lassen, er wäre wohl voller kitschiger Kunstgegenstände, Waffen, Rüstungen und nackten Statuen gewesen.

Entlang dem Wandfenster waren unsere vier Betten aufgereiht und durch Papierwände getrennt, so
dass jeder einen Ausblick und einen Rückzugsort für sich hatte. Ich lag rechts außen, in der Mitte die Lady, dann ihr Leibwächter, links außen Rugo von Sternling.
Ich habe es mir auf meinem Bett bequem gemacht, von diesem Ort aus würde ich jetzt wohl die meisten meiner Einträge machen. Von hier blickte man auf die langsam vorüberziehenden Sterne, mit etwas Glück könnte man hier auch Ätkogen oder ähnliche Wesen vorbeischweben sehen.


Eintrag 37, Tag 40


Wir haben uns wohl einigermaßen eingelebt. Wir kannten die Würfel ja schon alle, nur war da anstatt der Sterne damals eine prächtige Unterwasserlandschaft gewesen. Ich wusste noch nicht, was von beidem mir besser gefiel.
Rugo von Sternling schnarcht, aber nicht laut genug um mich zu stören. Das ist nun Jinhais Problem.


Eintrag 38, Tag 41


Selbst von den nach den Seiten gewandten Fenstern der Wohnwürfel aus kann man das riesige halbe Rund des Sonne sehen. Die Durmand scheint mit jedem Tag schneller zu werden. Heute wurde beim Essen eine große Ankündigung von Nizpi und Garza gemacht. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir morgen 'Abend' auf der Oberfläche der Sonne landen. Oder in die Oberfläche eindringen? Durch die Oberfläche dringen? Hat sie überhaupt sowas wie eine 'Oberfläche'?
Die Plätze beim Essen mischen sich immer mehr, daher habe ich heute mit Vooli und Fizz, also den beiden Asura aus der Golemabteilung, Rollo, Rikken und den Canthanern über die Sonne fantasiert. Wir sind so nahe dran, doch wissen wir bisher nur, dass sie grell leuchtet und unserer Welt Licht und Wärme spendet. Die Dunkelgläser und Dunkelscheiben sollen das Grelle jedoch stark verringern und die Einzelheiten der Sonne erkennen lassen. Jinhai zweifelt inzwischen selbst an den 'Einzelheiten', er behauptet, die Sonne sei wohl einfach eine flache leuchtende Pampe. Das sagte er aber nicht zu laut, denn auch die Hylek hatten sich am Tisch zusammengefunden, um ein theologisches Gespräch über die Sonne zu führen.
Rollo ist am unruhigsten, da er als Golemanzugstechniker als erster die Sonne betreten soll, um die anderen auf die Beschaffenheit und das Gefühl einzustellen. Er hofft stark, dass er nicht direkt in angesprochener Pampe versinkt, auch wenn er dagegen mit einer Aanicariumkette abgesichtert sein wird.
Die Lady Xiaoqing hat heute kaum etwas gesagt, sondern wieder einmal sehr viel gelächelt und aus dem Fenster zur Sonne geblickt. Ihre Schminke heute ist grellweiss, drei große orange Punkte verteilten sich auf Stirn, Nase und Mund.


Rikken war es, der uns wieder auf die Träume ansprach. Er sprach wieder vom Sonnenmeer und den Peitschen aus Feuer, die ihn zum Teil des Flammenmeeres machen. Und von der 'langen Reise', die die Hylek immer erwähnten, wenn man nach ihren Träumen fragte. Er bemerkte Jinhais spöttisches Lächeln und die gerunzelten Stirne der beiden Asura.
Er drückte dem Leibwächter den Zeigefinger gegen die Stirn.
„Ihr seid wie er.“ Er nickte Richtung Rugo von Sternling, der sich gerade mit Garza besprach.
„Ihr täuscht euch, fürchtet euch. Die Lady versteht es schon und Vylo und die Tengu und ich versuchen zumindest, zu verstehen. Es ist nicht einfach ein Zufall, was wir träumen!“
Fizz, der bekanntermaßen ein Schüler von Doktor Pynzos war, warf ein: „Ich halte mich an Fakten. Fakt: Der einzige meiner Träume, der sich bisher erfüllt hat, ist meine jetzige Position. Und die habe ich mir hart erarbeitet.“
Rikken knurrte und schluckte seinen Orangennachtisch herunter. Jinhai schob sich derweil den großen Zeigefinger von der Stirn. Rikken verschränkte grimming die arme vor der Brust.
„Fakten! Was sind Träume wenn nicht Fakten?? Doch schön, ja, das muss jeder für sich selbst ausmachen...“
Damit stand der frühere Rabenschamane auf und entfernte sich zu seinem Wohnwürfel. Wir sahen uns an, die Lady schien nicht zugehört zu haben. Jinhai berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Lady Xiaoqing, was meint er damit, dass Ihr 'versteht'? Diese Träume, die versteht Ihr oder was will er uns sagen?“ Er lehnte sich abwartend zurück.
Die Lady sah in die Runde, lächelte wieder.
„Nun, Jinhai Bo, ich habe sehr viele Bücher geschrieben, vielleicht hält Rikken Kaltatem mich für klug?“ Sie hob kaum merklich ihre Schultern und lächelte abermals, kicherte eine Sekunde wie ein kleines Mädchen und wandte sich dann ab zum Sonnenfenster.


Rollo kratzte sich hinter den Ohren, er verschlang nun ebenfalls seine Nachspeise. „Wie gesagt. Ich schlaf' ja wie ein Stein.“




Eintrag 39, Tag 42


Als ich Rollo am morgen begegnete, sah er nicht aus als habe er wie ein Stein geschlafen. Eher wie auf einem Beutel spitzer Kieselsteine. Blarfazz von der Maschinenhalle begleitete ihn und sprach davon, dass Rollo in einem fort vor sich hin gemurmelt hatte, fast die ganze Nacht. Er schob das auf die Aufregung, schließlich sollte er als erster die Sonne betreten.
Zu diesem Anlass würde man zunächst einen einzelnen Würfel auf die Sonne herunterschicken. Darin würden sich Doktor Pynzos, Vooli von der Golemwerkstatt, Qecatl und Rollo befinden. Und, aus Gründen der Dokumentation, ich selbst. Ich wurde nicht müde, Jinhai genau das unter die Nase zu reiben.
„Verbrennt ihr halt zuerst.“, war sein einziger Konter.
Dieser Neid.


Wir sollten Rollos erste Schritte beobachten und bei einem guten Ergebnis würden auch Pynzos, der Hylek und ich in Schutzanzügen nachrücken.
Doktor Pynzos gab Lady Xiaoqing außerdem den Auftrag, mein Tagebuch fortzuführen, sollten wir heute alle 'verbrennen oder anderwertig zu Tode kommen und/oder verstümmelt/im komatösen/anderwertig arbeitsunfähigen Zustand zurückkehren/nicht zurückkehren'.
Ich hatte mein bisher geschriebenes oben im Schiff lassen müssen, es könnte hier ja zerstört werden. Für meine weiteren Aufzeichnungen hatte man mir eine Schutzhülle gegeben, oder viel mehr eine Truhe oder einen Sarg, für meine neuen Notizen. Das sollte die Schriften selbst in einem Vulkan erhalten. Falls also etwas schief ging, könnte man vielleicht noch etwas wichtiges aus den Notizen lernen, wenn man es schaffte sie zu bergen. Ich sollte in eine ausweglos erscheinenden Situation alles aufschreiben, was mir Doktor Pynzos diktierte. Falls er nicht mehr lebte, sollte Vooli das tun, und so weiter und so weiter.
Doktor Pynzos hatte sich ausgiebig mit vielen möglichen Katastrophensituationen befasst, die eintreten könnten. Dazu gehörte natürlich auch die berüchtigte Liste, die die Wichtigkeit der unterschiedlichen Mitglieder aufführte.
In einem Notfall wollte niemand zu tief auf der Liste stehen...
Aus diesem Grund blieb auch Magisterin Nizpi auf der Brücke. Sie stand ganz oben auf der Liste. Die Magisterin war zu wichtig für die Expedition, als dass man ihren Tod riskieren konnte.
Und ihr Verstand war zu rational, um eine Errungenschaft wie 'erste Person auf der Sonne' über die Expedition zu stellen. Ruhm schien ihr erstaunlich wenig zu bedeuten. Sie schickte Rollo, weil er einfach am erfahrensten war.


Und jetzt sitze ich in dem Würfel, sehe zu wie Vooli den Golemanzug um Rollo herum verschließt. Er schaut manchmal unsicher zu mir und dem Doktor herüber und erinnert mich dabei an meinen Hauskater. Vielleicht stört es ihn, dass wir beide Notizen über ihn machen, als wäre er ein Objekt, das man studiert. Qecatl, der Rikitenda-Stammesführer, hängt mit dem Gesicht ehrfürchtig an der Scheibe und betrachtet das, was sein Volk seit Generationen als Gottheit verehrt. Noch nie war ihr ein Hylek so nah gewesen wie er. Die Hylek hatten die Expeditionsleitung überzeugt, dass es falsch wäre, keinen Hylek bei der ersten Landung auf der Sonne dabei zu haben. Von uns allen fürchtete er den Tod im Moment am wenigsten.


Rollo Dampfkrug sieht nun selbst aus wie ein riesiger Golem. Seine Haut steckt in einer goldbraun schimmernden Schicht aus Aanicarium, sein Gesicht ist eine dunkle, kraftfeldverstärkte Scheibe. Er tut einige Schritte, um sich an den Anzug zu gewöhnen.


Hier seine letzten Worte (vorerst!):
„Also wenn ich gleich zu einem Braten werden sollte...ich wollte mich hier nochmal bedanken, für die schöne Reise bisher. Wenn es jetzt gleich zuende ist, na ja, dann bereue ich nichts. Genau, schreib' alles mit Vylo. Und...ach, wird schon nichts passieren! Vooli, mach' die Kette fest, ich gehe mich sonnen!“
Rollo betrat die Kammer, die ihn zur Sonne führen sollte. Vooli hüpfte ihm auf den Rücken, befestigte die Aanicariumketten, überprüfte sie. Sie beugte sich über seinen Helm, klopfte ihm munter an die Scheibe. Er hob seine Hand. Die Asura wuselte aus der Kammer hinaus und schloss die Tür hinter sich. Jetzt war Rollo alleine in einer Kammer, die gleich die Hitze der Sonne hineinlassen würde.
Doktor Pynzos trat ans Fenster, um seinen Daumen zu heben. Wir alle traten ans Fenster, denn wir waren nun vom Luftschiff abgekoppelt. Unser Würfel schwebte langsam nach unten, weg von der Durmand. Sie leuchtete selbst wie eine kleine Sonne, die Außenhaut war der gnadenlosen Hitze ausgeliefert, aber sie hielt stand, wie prophezeit. Ohne das Dunkelglas und die Kraftfelder wären wir wohl längst blind oder verbrannt.
Einige Momente lang konnte man in den Fenstern der aufgereihten Wohnwürfel Gestalten erkennen, die uns zusahen, uns verabschieden wollten. Ich glaube, ich konnte Ryla aufgeregt umherzappeln sehen. Die Stimmung der anderen war scheinbar andächtiger.


Unten war nun, wo die Sonne war, eine grell leuchtende Scheibe, die näher kam.