Von Stand, Kapitel 4: Abstammung

Gendarran, 1291. Ein Gut südlich von Nebo.


Marianne Fourné war ein wunderbares Kindermädchen. Seit Geburt der jungen Therese, erst- und einzig geborene Tochter des Hauses De La Valle, kümmerte sie sich in jeder Hinsicht um den jungen Adelsspross. Vom Windeln wechseln bis zum Einkleiden in zarte, weiße Spitze sorgte die mütterliche Frau für ihren Schützling. Ihre Pflichten reichten vom Pusten aufgeschlagener Knie bis zu den Tintenflecken erster Schreibübungen; geleiteten das zarte Mädchen vom ersten Winterfest bis zur letzten Tanzstunde. Madame Fourné war da, um den Alltag des Kindes und später der heranwachsenden Edlen zu beaufsichtigen und zu gestalten und den hochgeborenen Eltern zu den seltenen Stunden des Beisammenseins bei Diner oder Tee eine perfekte Tochter zu liefern. Darüber hinaus liebte Madame Fourné ihren Schützling Therese von ganzem Herzen. Es blieb nicht aus, Bande des Herzens zu einem Kinde zu knüpfen, das zwar niemals im eigenen Leib wuchs, doch in der Pflichterfüllung eines jeden Tages den Mittelpunkt darstellte. So gab die Kinderfrau „ihre“ Therese im vorbestimmten Alter nur ungern an deren erste Zofe ab und weinte später schwere Tränen, als ihr Schützling als junge Braut das Haus verließ. Gräfin sollte sie werden, einen schmucken Conte Natanaéle Di Saverio heiraten und ihm die Blutlinie veredeln und die abgelegte Madame wünschte ihr dabei von ganzem Herzen alles Beste. Um so größer war die Freude, als einige – unziemlich lange – Jahre später ein Brief in ihrem kleinen Ruhestandhäuschen eintraf. Therese, mittlerweile jeder Zoll eine Gräfin, erwartete ihr erstes Kind und erinnerte sich der Liebe und Aufopferung, die ihr durch ihre alte Kinderfrau einst geschenkt wurde. Diese wollte sie dem eigenen Spross zuteil werden lassen und so bat sie „ihre“ Madame als Kinderfrau auf Gut Ährenstolz.


Im Eifer der neuen Aufgabe in geliebter Gesellschaft fuhr die neu beflügelte Kinderfrau zu Höchstleistungen auf. Die junge Contessa wurde durch die Schwangerschaft begleitet, Kinderzimmer wurden ausgestattet, Spitzenkleider beauftragt. Alles sollte bereit sein, wenn dem gräflichen Paar das höchste Glück auf Erden endlich beschieden wurde. Wenn der Madame während jener Monate auffiel, wie bedrückt und wenig vorfreudig ihr nun wieder anempfohlener Schützling sich gab, so hielt sie sich in Fragen maßvoll zurück. Schwangere hatten ihre Launen, so wurde es hingenommen und der Contessa jedwede Hilfe und Unterstützung gewährt. Und dann, an einem Tag im Koloss, da war es endlich so weit. Contessa Therese Di Saverio verlor ihr Wasser und auf ging es in das vorbereitete Geburtszimmer, in die Hände der Hebamme und des hinzugerufenen Arztes. Die Geburt war anstrengend und schmerzvoll, denn die Gräfin, von Haus aus eine zierliche Person, war in den Wochen ihrer Schwangerschaft noch magerer und ausgezehrter geworden. Die Madame hielt ihr die verkrampften Hände, wischte die Stirn „ihrer“ Therese und versicherte ihr ein ums andere Mal Mut und Durchhalten und „Bald hast du es geschafft, mein Herz.“ Und wirklich, nach einem Tag und einer Nacht in beklemmend heftigen Wehen erblickte endlich der Spross das Licht der Welt. Ein Schopf dunkler Haare und ein kräftiger Schrei gegen die Kälte der neu zu entdeckenden Welt: Der erste Sohn und gräfliche Erbe war geboren. Und unter all dem Gezeter und Gefreue, unter all der Hochjubelei bemerkte nur eine das immer blasser werdende Gesicht der erschöpften Mutter und ihren flacher werdenden Atem – die entsetzte Kinderfrau. Arzt und Hebamme wurden herbeigerufen und für nicht länger als eine halbe Stunde taten sie ihr Möglichstes. Vergebens. Die junge Mutter hörte nicht auf zu bluten und bald war ihr Lebenssaft vergossen, während die Madame „ihr“ Kind schluchzend in den Armen hielt. „Kümmere dich um Florean. Er darf es nie erfahren.“ kamen letzte Worte über blutleere Lippen und hinter ihnen huschte mit dem letzten Lebensatem die Seele der jungen Gräfin hinterher.
Später am selben Abend, als alle Tränen vorerst der Pflicht gewichen waren, hielt die Kinderfrau den Erstgeborenen gebadet und gehüllt in Spitze auf den Armen und als der Junge ihren Finger umgriff, verlor sie erneut ihr Herz. Sie blickte in seine Augen, deren dunkles Grün. Grün? Woher...?


Madame Marianne war eine wunderbare Kinderfrau. Sie hielt viel von Erziehung zu eigenen Gedanken und Neugierde. Doch manche Fragen, das wusste sie, sollte man nicht einmal sich selbst stellen...