Silent Melody II

"Bitte, schaut Euch nur um." sagte Priesterin Evanna lächelnd zu dem jungen Ehepaar das hereintrat. Wieder ein Paar das ein Kind suchte und vielleicht eines ihrer Schützlinge adoptieren mochte.
"Meine Frau und ich haben schon lange versucht ein Kind zu bekommen." sagte der Mann, der sich als Zyran Lavelle vorstellte. Seine Frau Mira lächelte indes und fügte an: "Aber es will einfach nicht klappen... wir wünschen uns aber sehnlichst ein Kind, am liebsten ein Mädchen... und da dachten wir... schauen wir doch mal ob wir hier nicht eine finden, die ein neues Zuhause braucht."
"Darüber würde sich jedes unserer Kinder freuen... Marcus! Nicht auf dem Gang herumrennen!" die Priesterin rief dem Lausbuben hinterher. "Entschuldigt mich bitte... Schaut Euch doch schon einmal in Ruhe um, die Mädchen sind im Obergeschoss untergebracht. Ich bin gleich wieder bei Euch."
Damit verabschiedete sich Evanna kurz und lief dem Rotzbengel hinterher. Mira lächelte begeistert und wurde von ihrem Mann ins Obergeschoss begleitet. Kaum waren sie dort angelangt, drang etwas an ihr Ohr das sie an diesem Ort kaum für möglich gehalten hatten.


Es war Flötenmusik. Wer immer dort spielte, machte zwar ein paar kleine Fehler, spielte aber mit Herz das konnte man hören. Wie verzaubert folgte Mira dem Klang der Flöte in eine kleine Kammer, in der vier Betten standen. Auf einem davon saß jemand und der Anblick rührte Mira so sehr dass sie sich ans Herz fasste.
Auf dem Bett, das definitiv schonmal bessere Zeiten gesehen hatte, saß ein junges Mädchen, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, mit langen kastanienbraunen Haaren, die im Sonnenlicht fast wie Messing schillerten. Sie blickte mit ihren rehbraunen Augen verträumt zum Fenster hinaus. An ihren Lippen lag eine Holzflöte, dem Aussehen nach aus einem alten Weidenstock selbstgeschnitzt und sie spielte darauf, als wolle sie die Sonne begrüßen. Im unwirklichen Licht des Zimmers, beim Klang der Flöte, wirkte sie fast wie eine Fabelgestalt und Mira sah gerührt zu ihrem Mann während sie dem Spiel lauschten. In ihrem Blick konnte Zyran sehem was seine Frau dachte: "Das ist sie."


Als das Mädchen das Lied beendete applaudierten die beiden ihr, was sie zunächst zu erschrecken schien, denn sie zuckte merklich zusammen. Sie war wohl ganz in die Musik vertieft gewesen. Doch dann blickte sie zu dem Pärchen und lächelte breit, kam auf sie zugelaufen. Mira bückte sich herab um ihr ins Gesicht zu sehen.
"Du spielst wunderschön, einfach wunderschön" sagte Mira begeistert. "Wie heißt du, meine Kleine?"


Auf diese Frage hin starrte das Mädchen sie nur an. Einen ganzen Moment lang, bis Mira sich fragte ob das Kind die Frage überhaupt verstanden hatte. Dann hielt das Mädchen etwas hoch, was erst wie ein Spielzeug aussah, erst auf den zweiten Blick erkannte sie dass es eine Art Holzstab war in den jemand die Buchstaben des Alphabets eingeritzt hatte. Es war ein länglicher Stab, mit dreieckiger Grundfläche und 9 Sektionen auf jeder Seitenfläche, in jeder stand ein anderer Buchstabe des krytanischen Alphabets, die am häufigsten verwendeten (E, R, N, S, T, L etc.) vorn auf einer Seite, die weniger häufigen (X, Z, Y, J, U, etc.) weiter hinten. Das Mädchen drehte den Stab, ihr Finger ruhte jeweils immer unter einem Buchstaben. Zuerst zeigte sie ein "D". Dann ein "I". Dann ein "A".


"Diana." Prieterin Evanna war hinzugetreten und beendete die Buchstabiererei des Mädchens. Mira blickte irritiert nochmal auf den Stab und erhob sich dann.
"Ah, Diana." irritiert blickte sie Evanna an, neigte sich zu ihr und flüsterte, wenn auch nicht leise genug als dass Diana es nicht hören konnte. "Ist sie behindert?"
"Stumm." antwortete die Priesterin knapp. Mira zog den Kopf zurück, öffnete den Mund leicht und formte ein stummes "Ah" mit den Lippen während sie verstehend nickte. "Stumm also..."
Sie blickte nochmal zu Diana runter, dann zu ihrem Mann der ratlos die Stirn in Furchen legte. Beide sahen sich eine Weile an. Evanna kannte diese betretene Situation. Und sie tat das, was eine gute Waisenmatrone in solchen Situationen am besten tat: Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf ein anderes Kind. "Sandra, Schätzchen, magst du den Herrschaften nicht zeigen was du für ein tolles Bild gemalt hast? Sie ist wirklich eine Künstlerin..."
Sie führte die beiden zu einem blonden Mädchen, ein halbes Jahr jünger als Diana, und die zwei sahen erleichtert aus aus der Situation befreit worden zu sein.
Evanna drehte sich nochmal zu Diana um, der die Enttäuschung auch ohne Worte ins Gesicht geschrieben stand. Sie machte eine entschuldigende Geste und versuchte Diana ein aufmunterndes Lächeln zu schenken.
Das Mädchen aber hob die Achseln und zeigte der Priesterin nacheinander ihre Finger.
Für außenstehende mochte diese Zählerei keinen Sinn ergeben, aber Evanna verstand es: Das war jetzt das fünfte oder sechste Pärchen das so reagiert hatte. Und Diana hatte vermutlich das Zählen aufgegeben.


Es sollte auch nicht das letzte Pärchen gewesen sein. Aber es waren die letzten, auf die Diana fröhlich zugegangen war. Es tat Evanna weh zu sehen, wie so ein junges Kind die Hoffnung verlor, aber so traurig es war, in einem Waisenhaus war das kein Einzelfall.
Bei den anderen Kindern hieß Diana mittlerweile "Melo-Dia", eine Anspielung auf ihren Namen und darauf, dass die einzigen Töne die sie hervorbrachte, Flötenmelodien waren. Doch es schien sie nicht zu stören. Diana war ohnehin nur ein Name nach Schema F. Sie wandelte ihren Rufnamen ein wenig ab und bestand darauf fortan "Milodia" genannt zu werden. Damit konnte sie sich wenigstens identifizieren.


The one who puts the "laughter" in "slaughter"
And the "fun" in "funeral"!


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Nationalismus keine Alternative, sondern eine Katastrophe ist.