Ein charmantes Kerlchen - Kapitel V

Kapitel V – Fieberträume


Es war seltsam. Irgendwie fühlte er sich zum Einen schwerelos und zum Anderen so unendlich schwer, dass es ihn zu erdrücken drohte. Aber dieses Gefühl war nichts im Vergleich zu dem, was er vor sich sah. Es war das Waisenhaus aber nicht so, wie es inzwischen aussah. Die Mutter Oberin, die draußen gerade ein kleines Mädchen schalt, sah jünger aus. Wesentlich jünger. Und das kleine Mädchen – ja, das kleine Mädchen hatte er bisher nicht ein einziges Mal im Waisenhaus gesehen. Es hatte schwarze Haare, blasse Haut und aufgeschlagene Knie. Außerdem trug es ein lilanes Tuch um den Hals. Es war ... seltsam bekannt.



Gerade als er auf die Szenerie zugehen wollte, verschwamm sie vor seinen Augen und es kam ihm vor, als müsste er sich übergeben. Vielleicht tat er das sogar. Seine Übelkeit wurde nur noch versteht durch die nächste Szene, die er sah. Ein blonder Mann mit makeloser Kleidung. Lediglich das Gesicht war ein schwarzes Loch. Das Bizarre war, dass er dennoch eine unbändige Wut verspürte und diesen Unbekannten stoppen wollte bei dem, was er tat. Denn sie waren keinesfalls alleine. Ein weiterer Mann war da, ebenfalls mit einem schwarzen Loch als Gesicht. Er wurde von dem Blonden geschlagen – immer und immer wieder. Es war völlig grotesk! Er wollte helfen, er wollte diesem blonden Unbekannten daran hindern weiter zu zuschlagen und konnte es nicht! Es war, als würde man ihn mit Gewichten am Boden gekettet haben – er konnte sich einfach nicht bewegen!


Als er glaubte, er müsse sich von dem Anblick, der ihm regelrecht aufgezwungen wurde, übergeben, wechselte er. Das Licht wurde dämmrig und er fand sich in einem dieser ewig gleichaussehenden Zimmer einer Taverne wieder. Auch dieses Mal war er nicht alleine. Auch dieses Mal waren keine Gesichter zu sehen, nur Schatten dessen, was dort vielleicht einmal sein sollte. Im Bett rekelten sich zwei Menschen – eine Frau und ein Mann – und schienen dem allgemein bekannten Spiel nachzugehen. Völlig davon abgesehen, dass die Frau kein Gesicht hatte, wechselte stetig ihre Haarfarbe. Mal rot. Mal schwarz. Mal blond. Mal brünett. Aber am häufigsten war sie jedoch rot oder schwarz. Ganz im Gegensatz zu der des Mannes. Die blieb immer schwarz. Plötzlich, als er sich bereits wieder im Zimmer umsehen wollte, drehte sich der Kopf des vermeintlichen Mannes zu ihm um und grinste zahnig. Er hätte am liebsten geschrien bei dem, was er sah. Es war Glück, dass er weder einen Ton über die Lippen bringen konnte noch, dass er weiter in diesem Zimmer bleiben musste – denn das Bild, dass sich ihm bot, änderte sich wieder.


Ihm wurde schlagartig heiß, viel zu heiß, als das es wirklich angenehm sein konnte. Um ihm herum war Feuer. Der gesamte Raum, in dem er sich befand, brannte lichterloh. Aber nicht nur der Raum war es, der brannte. Es lagen lagen Leute auf dem Boden, die ebenfalls langsam anfingen zu brennen. Bei einer dieser Personen durchzuckte ihn ein heftiger, lähmender Schmerz, dass er glaubte man würde an seinem Fleisch sägen. Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht einfach umfiel und über sich selbst erbrach. Als er halbwegs wieder bei Sinnen war, warf er einen erneuten Blick zu den am Boden liegenden Menschen. Inzwischen nahm das Feuer sie beinahe gänzlich in Besitz und die Hitze, die ihn umgab, war beinahe unerträglich. Es war wie ganz zu Anfang. Er hatte dieses undefinierbare Gefühl diese Frau zu kennen. Natürlich hatte sie kein Gesicht aber ihr Haar war so rot wie das Laub mittem im Herz. Außerdem war sie ein gutes Stück größer als die Anderen ...


'Kleines..'


Es war wie ein Blitz der Erkenntnis, der ihn durchzuckte. Natürlich! Die Kleine war es, die da lag. Und das Haus – dieser Raum – war Teil vom Anwesen. Mit einem Mal ertönte ein kaltes, hohes Lachen hinter ihm und er wurde wider seinem Willen herum gedreht. Was er dann sah verschlug ihm glatt die Sprache. Nicht, dass er hätte sprechen können, wenn er wollte nur der Anblick dessen, was sich vor ihm dar bot, war schlicht unmöglich. Er konnte es nicht akzeptieren! Immerhin war es anders abgelaufen! Er musste es wissen denn er war dabei gewesen! ... Oder?


Die Tür fiel langsam aber schrecklich unaufhaltsam zu. Das Letzte, was er sah, war ein gesichtsloser blonder Mann, der eine gesichtslose, rothaarige Frau im Arm hielt. Das Kleid, dass sie trug war nicht weniger verstörend, als das kalte Lachen, dass von ihr ausging. Schlußendlich wurde er von den Flammen verschluckt und um ihn herum wurde es dunkel. Dunkel und still.


"I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it."
Evelyn Beatrice Hall; The Friends of Voltaire (1906)


"Oh mein Gott, er schluckt ihn ja wieder runter!"
Kay beim ersten Mal. (2016)