Ein charmantes Kerlchen - Kapitel VI

Kapitel VI – Fieberträume II



Hätte ihm irgendwer erzählt, dass er Angst vor seinen eigenen Träumen – vor dem Einschlafen haben würde, hätte er diesen Jemand direkt ins Gesicht gelacht und ihm obendrein noch den Vogel gezeigt. Aber immer, wenn er seinen Dämmerzustand verließ und in den Schlaf zurück glitt, obwohl er sich mit aller Willenskraft dagegen wehrte, überkam ihn eine Angst, die er vorher noch nie erlebt hatte. Alles in ihm wurde immer ganz kalt und er spürte förmlich, wie sich der Schweiß auf seiner Stirn bildete. Der einzige Trost und zugleich größte Folter war bisher, dass er ein stummer Beobachter blieb. So auch – hoffentlich und gleichzeitig auch nicht – dieses Mal.


Er wusste nicht, ob er gerade eben eingeschlafen war oder zumindest schon eine Weile traumlos schlief aber das war auch einerlei. Wie schon so oft fand er sich beim Waisenhaus wieder. Seine Träume, oder besser gesagt Albträume, fingen immer mit dem Waisenhaus an. Aber irgendetwas war dieses Mal anders, nur wusste oder erkannte er nicht genau was anders war. Wie immer sah er sich auf den Hof des Waisenhauses um und wusste, dass das alles bereits der Vergangenheit angehörte. Da war zum Beispiel Edward, der gerade wieder einmal ein Käsestück aß. Deswegen und wegen seinen mehr gräulichen Haaren hatten sie ihn 'Ratte' getauft. Aber er wusste, dass die 'Ratte' zuerst eine Hand, dann seine zweite verloren hatte, weil er beim Stehlen erwischt wurde. Danach hat es nicht mehr lange gedauert und er war gestorben. Das gleiche galt für den schmierigen Pete. Er wurde eines Tages mit aufgeschlitzter Kehle gefunden.


Gerade als er sich weiter umsehen wollte, wurde er angerempelt. Angerempelt! Er! Das war unmöglich! Bisher war er doch immer nur ein Beobachter gewesen, niemand, der wirklich anwesend war! Zur Untätigkeit verdammt und seiner Stimme beraubt – das war er! Dennoch, als sei das normalste der Welt, drehte sich der – oder besser gesagte die – Übeltäterin um und sah ihn aus ihren braunen Augen an. Sie legte ihren Kopf etwas schief und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.


"Alles gut?"


Voller Verwunderung schaffte er nur ein leichtes Nicken. Was sollte das? Wieso sah und sprach sie mit ihm?! Plötzlich, bevor er sich weiter den Kopf zerbrechen konnte, sah er etwas im Augenwinkel. Zuerst glaubte er, dass es nur die vergilbten sowie verdreckten Scheiben waren. Aber dann erkannte er den eigentlichen Grund warum sich sein Herzschlag beschleunigte. Das war er! Und auch gleichzeitig nicht. Er war kleiner, jünger. Der Bart fehlte, seine Haare waren kürzer und die frische Narbe an seiner linken Augenbraue fehlte genauso. Er war es – nur als kleiner Junge ...


"Ich bin Mellysa! Wer bist Du?"


"Ich bin Lair.. Eolair."


Die Stimme, die da sprach, klang schrecklich und gleichzeitig so vertraut. Es war definitiv seine Stimme.Doch bevor er sich seiner neu gewonnenen Freiheit in seinen eigenen Träumen erfreuen konnte, stieß das kleine Mädchen vor ihm einen spitzen Schrei aus. Er brauchte nicht lange zu suchen, um die Ursache zu finden. Ein großer, blonder Mann mit einem kalten Lächeln hatte sie mit beiden Händen gepackt und hochgehoben. Seine Augen, seine kalten, stechenden Augen blickten voller Abscheu und Überheblichkeit zu ihm runter.


"Ich hatte Dich gewarnt, Lair."


Mit diesen Worten, die in ihm selbst – oder seiner kindlichen Ausgabe – eine Welle der Übelkeit auslösten, wendete sich der blonde Mann ab und ging in aller Ruhe davon. Nun war er es, der einen spitzen Aufschrei verlauten ließ und zur Verfolgung ansetzte. Doch egal wie schnell er glaubte zu rennen, den blonden Mann und das weinende Mädchen auf seinem Arm holte er nicht mehr ein. Es war wie verhext! Der Mann ging nicht einmal schnell also müsste er ihn längst erreicht haben! Gerade, als er mit seinen kleinen Händen einen Stein im Laufen aufheben wollte, blieb er mit seinen rechten Fuß irgendwo hängen und fiel der Länge nach hin. Ohne zu zögern versuchte er sich direkt wieder aufzurichten aber ... es ging nicht. Sein gesamter Körper kam ihm so schwer vor wie Blei. Egal wie sehr er sich auch bemühte, er konnte noch nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Mit einem letzten Blick nach vorn zu dem Mann, sah er gerade noch, wie dieser durch das Tor des Viertels verschwand ...


"Los, komm schon, Mann! Steh wieder auf! Zwei-Zehen-Till darf uns nich' erwischn!"


Bevor er überhaupt wusste, wo und vor allem wann er war, wurde er grob auf die Beine gezogen und weiter geschubst. Wie von selbst fing er wieder an zu rennen und zwar so, als wenn eine Horde wild gewordener Charr hinter ihm her seien. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Zwei-Zehen-Till! Er hatte ihm damals mit einem anderen Jungen aus dem Waisenhaus eine Verabredung mit der drallen Martha aus der Schenke verdorben. Wenn Till sie damals erwischt hätte ... nun, das wollte er sich lieber nicht ausmalen. Aber immerhin wusste er nun, wohin er rennen musste. Er erinnerte sich noch gut daran immer war es das erste Mal gewesen, wo er wirklich Angst hatte, dass ihn jemand halb tot prügelt.


Flink wie eine Katze übersprang er Hindernisse und wand sich zwischen den, vor Empörung schimpfenden, Leuten hindurch. Er war beinahe am Ziel! Da vorne nur noch rechts und die Gerade entlang sprinten. Da war dann die Tür, die er damals mit voller Wucht zugeschlagen hatte gerade als Zwei-Zehen-Till hindurch wollte. Es gab einen unschönen, knirschenden Laut und ein markerschütternden Aufschrei. Seit diesem Tage an hatte er für John 'Flammenherz' Gaunt gearbeitet. Und es war gute Arbeit gewesen.


"Da vorn is' 'ne Tür! Los, das schaffn wir!"


Mit den letzten Kraftreserven, die er aufbringen konnte, folgte er seinem Freund aus dem Waisenhaus. Aber das Atmen, was ihm immer schwerer fiel und die beinahe ohnmächtig machenden Schmerzen in seiner linken Seite ließen ihn zurück fallen. Was machte das auch schon? Er wusste ganz sicher, dass dieser Junge und er es geschafft hatten die Tür zu erreichen. Warum sollte er sich also nicht zurück fallen lassen? Zwei-Zehen-Till brauchte noch eine ganze Weile bis er zu dieser Stelle kommen würde. Also gab es keinen Grund sich zu beeilen.


"Du und ich - wir hatten eine Abmachung, Lair. Du solltest Deinen Platz kennen und akzeptieren. Du bist nicht gut für sie."


Kaum, dass er die Worte hörte, riss er den Kopf hoch. Immer wieder und wieder erschien dieser Mann mit seinem scheiß blonden Haar und seinem affektierten Lächeln, nur um mit ihm zu spielen! Einen Wutschrei auf den Lippen machte er einen Sprung auf die Tür zu, in der Hoffnung noch durchzukommen. Aber er kam nicht durch. Beinahe so, als sei es nie anders in der Vergangenheit abgelaufen, knallte er mit voller Wucht gegen die Tür, was ihm für einen Moment den Atem raubte. Wie?! Wie konnte es nur sein, dass der Blondschopf hier auftauchte! Er war tot! Nicht mehr da, nicht mehr am leben! Mit einem scheiß Dolch im Hals verreckt, das war er! Wieso also geisterte er hier noch umher? Bevor er aber eine Antwort auf diese Fragen finden konnte, wurde er grob an der Schulter herum gerissen. Er hatte nicht einmal Zeit seine Arme schützend vor das Gesicht zu halten, als er Zwei-Zehen-Tills Faust auf sich zufliegen sah ...


"Das sind Eindringlinge! Ergreift sie, los!"


Eine geladene und Hahn gespannte Waffe in der Hand stand er gute vier Schritte von dem Gardisten entfernt, der die Halsabschneider anbrüllte. Aber keiner rührte sich. Vielmehr starrten alle ihn an und schienen von dem keifenden Gardisten keine weitere Notiz zu nehmen. Es war, als würde alles auf etwas warten. Auf ihn warten. Und er wusste, was nun folgen würde. Er hatte es schon oft genug geträumt. Oft genug hätte er am liebsten sich einfach in die nächstbeste Ecke gestellt und übergeben. Aber er konnte nicht. Dieses Mal war er nicht Herr seiner selbst.


Mit einer beinahe andächtigen Bewegung richtete er seine Pistole auf den Mann, wahrscheinlich einer der Söldner, der links von dem immer noch Zeter und Mordio schreienden Gardisten stand. Ohne jegliches Zögern, so, als wäre es das normalste der Welt, drückte er ab. Der trockene Knall kam direkt auf dem Fuße und der beißende Geruch von Pulver stieg ihm in die Nase. Da der Rauch, der von seiner Pistolenmündung ausging, ihm die Sicht nahm, hörte er eher als das er sah, dass er getroffen hatte. Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Söldner zu Boden und, als wäre dass das Startsignal gewesen, brach der Kampf um ihn herum aus. Das nächste, was er sah, war etwas hell und blau leuchtendes, dass auf ihn zugeflogen kam.


Schweiß gebadet und ausgelaugt fuhr er aus seinem Bett hoch, was er direkt mit einem stechenden sowie ziehenden Schmerz an seiner linken Taille bezahlte. Mit einem unflätigen Fluch auf den Lippen, der selbst den billigen Gossen-Dirnen die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte, richtet er sich – dieses Mal langsamer – auf. Ihm drehte sich alles und er hatte das Gefühl er würde gleich aus seinem Bett fallen und zur Treppe kullern, wenn er nicht die Augen schließt. Aber kaum das er es tat, erschien ihm wieder dieses Gesicht des unbekannten Söldners und ihm wurde noch spei übler als zuvor schon. Es war nicht alleine der Umstand, dass er ihn getötet hatte. Vielmehr, dass es so leicht war. Er hatte einfach seinen Zeigefinger angespannt und den Abzug betätigt. Mehr war nicht nötig gewesen und der schmierige Kerl ist aus seinen Latschen gekippt. So leicht ...


"Mel..! Wasser..!"


"I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it."
Evelyn Beatrice Hall; The Friends of Voltaire (1906)


"Oh mein Gott, er schluckt ihn ja wieder runter!"
Kay beim ersten Mal. (2016)

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