Der Stille Berserker
„Ich weiß ja, dass Nachtgeborene oft etwas geheimniskrämerisch sind, aber der übertreibt. Echt." - Händler am Mabon-Markt
Seit mindestens zehn Jahren taucht dieser Wanderer immer wieder im Hain auf, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Dabei entspricht er nicht unbedingt dem Bild, das sich viele Außenseiter vom typischen Sylvari machen. Sein Äußeres weckt mit seinen eher dunklen Farben und dem giftgrünen Glühen nur wenige Assoziationen mit bunten Blumen und seine wortkarge Art erwischt alle auf dem falschen Fuß, die davor nur Kontakt zu naiv plappernden Sylvari hatten. Die raubtierhaft gelb-grünen Augen, die raue, fast flüsternde Stimme und seine für Menschen etwas canthanisch wirkenden Züge unterstreichen diesen exotischen Eindruck.
„... Ja." - Sléibhín auf die Frage, ob er einen Plan hat.
Sléibhín scheint eine Abneigung gegen Kleidung, Rüstung oder Waffen zu haben, die nicht nach Sylvari-Art gewachsen sind, und er scheint sich sichtlich wohler zu fühlen, wenn er möglichst wenig Gesellschaft hat. Um so seltsamer erscheint es, dass er sich offenbar eine junge Schülerin ausgesucht hat, die nicht nur im Vergleich zu ihm wie ein Wasserfall redet. Er scheint jedenfalls nicht vorzuhaben sie in der Sicherheit des Hains auszubilden, denn dort wurde er seitdem eher noch seltener gesehen als zuvor.
„Schweigsamer Typ und eine lispelnde Schülerin, eh? Hab' ich gesehen. Die sind von dieser goldenen Stadt aus noch tiefer in den Dschungel." - Paktveteran nach dem Mordremoth-Feldzug
Ríastrad – Ventaris Tafel und der Pfad des Kriegers
Das Folgende ist ein kurzes Traktat über Sléibhíns Auslegung der Lehren Ventaris, so wie er es niederschreiben würde, wenn er die Notwendigkeit dafür verspürte.
Ventaris Vision für den Blassen Baum war die einer Zuflucht des Trostes, des Schutzes vor dem Blutvergießen der Welt, in der die Saat des Chaos mit den Tränen Unschuldiger begossen wird. In seinem Schatten sollten alle in Eintracht und Harmonie willkommen sein, unbesehen ihrer Rasse und ihres Standes.
Seit der Geburt dieser Vision sind viele Jahre vergangen, Jahre, in denen das Chaos und das Blutvergießen eher zugenommen als abgenommen haben. Wir sind die Früchte dieses Baumes, aber anders als die Früchte anderer Bäume fallen wir nicht zu Boden um dort zur Saat eines neuen Baums zu werden oder zur Nahrung für allerlei Getier. In einem tieferen, spirituellen Sinn fallen wir nicht einmal zu Boden, wenn wir es nicht wünschen, sondern bleiben immer mit unserer Mutter verbunden. Auch sind wir nicht passiv dem Willen anderer unterworfen sondern frei unseren Pfad in der Welt zu wählen, und wenn wir uns so entscheiden, kann uns dieser Pfad sogar dahin führen, dass wir uns gegen den Blassen Baum selbst wenden, wie unsere Brüder und Schwestern vom Albtraumhof demonstrieren.
Wenn wir aber Ventaris Lehren als wahr erachten und seine Vision als schützenswert, so ist es an uns seiner Philosophie gerecht zu werden und den Blassen Baum als Zufluchtsort zu erhalten. Die Frage ist jedoch, ob wir alle danach streben sollten so zu sein wie Ventari, ob seine Art und Weise seine aufgestellten Prinzipien umzusetzen, die einzige ist, die den Blassen Baum nährt und erhält.
Lautet die Antwort auf diese Frage „ja“, so folgen wir einzig dem geraden Weg, dem Pfad des Stammes. Es ist notwendig, dass unter uns solche sind, die den Stamm stärken. Der Stamm ist die Verbindung zu unseren Wurzeln, er gibt dem Baum Stabilität und eine aufrechte Statur.
Jedoch besteht ein Baum aus mehr als nur einem Stamm. Erst die verzweigten Äste geben ihm seine Gestalt. Sie sind wie der Stamm Teil des Baumes und ebenso erforderlich für sein Überleben. Daraus folgt, dass es nicht-gerade Wege geben muss Ventaris Lehren umzusetzen, Pfade, die von dem Ventaris abweichen ohne dabei das Fundament seiner Lehren, unsere Wurzeln, zu verlassen.
Einer dieser Pfade ist der Pfad des Kriegers. Scheinbar im Widerspruch zum Leben Ventaris und seiner Lehren, die auf seiner Tafel und in unserem Traum verewigt sind, stellt er lediglich eine Transformation dar, und wenn ein Sylvari diesem Pfad bis zu seinem Ziel, dem Ríastrad, folgt, ist diese Transformation auf allen Ebenen offenkundig. Möglicherweise gibt es noch andere Ziele auf dem selben Pfad, aber dies war meines, und so wie der Ast viele kleinere Zweige gebiert, so offenbaren sich durch das Ríastrad neue Wege, die vorher verschlossen schienen.
Wie aber folgt der Pfad des Ríastrad den Prinzipien, die wir auf Ventaris Tafel und in unseren Seelen wiederfinden? Was folgt daraus für den Krieger? Das will ich kurz erläutern.
I. Lebt gut, in vollen Zügen, und vergeudet nichts.
Schon die erste Lehre enthält nicht nur die Erlaubnis sondern den ausdrücklichen Auftrag unseren Überzeugungen dorthin zu folgen, wohin sie uns führen, unser Potential auszuschöpfen und unsere Fähigkeiten ohne Vorbehalt einzusetzen.
Keine zwei Gelehrten beliebiger Völker sind sich wirklich einig darüber, was es heißt, gut zu leben. Daraus lässt sich nur schließen, dass auch wir diese Frage nur für uns selbst beantworten können, wobei zumindest die, die sehen und hören wollen, durch Ventari und den Traum ausreichend Anhaltspunkte haben verantwortungsvoll zu entscheiden welche Bürde wir anderen durch unseren Willen aufladen oder von den Schultern nehmen können. Unser Wille ist das Gesetz, unser Wissen der Wegweiser unseres Willens.
Ventaris Volk, die Zentauren, sind eine stolze Rasse voll glühender Leidenschaft und flammender Überzeugungen. Darum wundert es nicht, dass Ventaris erstes Gebot auch uns jede Zurückhaltung verbietet. Somit ist jeder Sylvari, dessen Herz in Kampfeslust entflammt und mit Händen, die für den Krieg geschaffen sind, auch ein treuer Gefolgsmann der Lehren, wenn sein Pfad ihn zum Ríastrad führt.
II. Keine Angst vor Schwierigkeiten. Harter Boden stärkt die Wurzel.
Keine Angst. Angst führt dazu, dass wir Energie darauf verschwenden etwas vermeiden zu wollen, was unvermeidbar ist, oder dass uns die Klarheit des Verstandes fehlt das zu vermeiden, was vermeidbar ist. Nicht jeder muss stark sein, aber kein Sylvari sollte sich davor fürchten Stärke zu erlangen. Ein Krieger, dessen Wurzeln noch nie durch harten Boden geprüft wurden, ist unsicher, in Unkenntnis seiner Stärke. Der wahre Pfad des Kriegers führt tief in den härtesten Boden, denn nur die Stärksten sind bereit für die Erfahrung des Ríastrad, auf dass ihre Wurzeln nicht an der Transformation zerbrechen und eingehen.
III. Der einzig dauerhafte Friede ist der Friede Eurer Seele.
Die dritte Lehre ist Beweis der Klugheit und Weitsicht Ventaris. Er wusste, dass überall dort, wo unterschiedliche Auffassungen darüber, was gut und richtig ist, Konflikte entstehen. Ein Sylvari soll jedoch danach streben, dass dieser Konflikt nicht in seinem Inneren stattfindet. Ventari sagt, das Befestigen eines Pfades der Klarheit vom Verstand zum Herzen ist eine schwierigere Schlacht als jede, die mit dem blanken Stahl geschlagen wird. Das bedeutet für einen Krieger, dass ihm sobald er diese Klarheit erreicht hat jede darauf folgende Schlacht mit dem Schwert leicht erscheinen wird, auch wenn ihm nicht immer Erfolg beschieden ist. Ohne Klarheit fehlt diese Leichtigkeit. Ohne Klarheit kein Ríastrad.
IV. Alles hat ein Recht darauf zu wachsen. Die Blume ist die Schwester des Unkrauts.
Von allen Lehren ist diese diejenige, die am ehesten gegen den Pfad des Ríastrad zu sprechen scheint. Bedeutet Hingabe an die Lust am Kampf nicht gerade, dass man anderen das Recht auf Wachtstum abspricht, dass man das Unkraut jätet, wo immer man es antrifft? Nein, denn ein Krieger auf dem Pfad des Ríastrad ist jemand mit der nötigen Stärke für den Kampf und der nötigen Klarheit zu erkennen, wo dieser notwendig und gut ist. Nur dann ist es möglich die Schlacht ohne inneren Konflikt zu schlagen, voller Überzeugung, in Eintracht von Herz und Verstand. Wir Sylvari kämpfen nicht, nur weil jemand anders ist, unerheblich ob uns gefällt, was wir sehen.
V. Lasst ein Unrecht nie zu Bösem reifen oder Leid.
Die fünfte Lehre gebietet auch dem Krieger seine Fähigkeiten für das einzusetzen, was richtig ist, und bürdet ihm die schwere Last der Verantwortung auf. Denn wo im Frieden weise und freundliche Worte Unrecht beseitigen können bevor daraus Schlimmeres entsteht schafft das Kriegshandwerk oft neues Unrecht und Leid in großem Ausmaß. Der Pfad des Ríastrad wird nicht vom Drängen anderer bestimmt, nicht vom Geschrei nach Rache oder Gerechtigkeit, nicht vom Flehen um Beistand. Der Krieger trägt die Last. Er bestimmt, wohin die Klinge fällt.
VI. Handelt weise, doch handelt.
Untätigkeit ist nur dann als weise Handlung anzusehen, wenn das Ergebnis vorhersagbar und erwünscht ist. Wer das fallende Ei nicht auffängt obwohl er es könnte, verwirkt sein Recht über dessen Zerbrechen zu klagen. Der Krieger auf dem Pfad des Ríastrad muss nicht kämpfen, wenn es nicht weise wäre zu kämpfen. Er darf nicht kämpfen, wenn es nicht weise wäre. Ein weiser Krieger beherrscht mehr als nur die Kriegskunst oder besitzt wenigstens die Einsicht beiseite zu treten und denen das Feld zu überlassen, die tun können, was gerade das Beste ist. Aber ein anstürmender Feind lässt sich nicht durch ein Lächeln besänftigen, Drachen verhandeln nicht bevor sie die Welt verschlingen. Zögere nicht!
VII. Vom kleinsten Grashalm bis zum höchsten Berg: Gehet, wohin das Leben geht.
Der Schutz des Blassen Baums beginnt mit der Verteidigung des Hains, aber er endet nicht dort. Auch ein Drache in den fernen Zittergipfeln kann unsere Wurzeln mit Frost angreifen, Chaos in Kryta in unsere Borke schneiden und ein Brand, ausgelöst durch einen Kriegstreiber im Land der Charr, uns die Luft zum Atmen nehmen. Die Wurzeln anderer Gewächse berühren die unseren, die Äste recken sich in den selben Himmel, ein Vogel, der auf einem Baum brütet, jagt auf einem anderen nach Nahrung. Überall, wo das Leben ist, sind auch Konflikt und Tod. Ríastrad ist überall.