Am Scheideweg

Draußen tobte ein scharfer, kalter Wind. Die Schneeflocken, die in Richtung Boden kamen und auf einen Widerstand trafen, stachen wie kleine Nadeln die unnachgiebig auf ihr Ziel einschossen. So konnte man nur erahnen, welch ein Sturm in der Nacht wüten würde und was seine Kraft alles anzurichten vermochte.
Durch diesen nahenden Sturm bahnte sich ein Norn, der den Kragen seines Mantels eng hielt und der sich gegen den Wind und die nadelspitzen Schneeflocken kämpfte. Vorbei an der Halle des Raben, trieb es ihn weiter zu der Halle der Großen Bärin. Die beiden gewaltigen, aus Eis geschlagenen Bären wachten wie immer an den Seiten der Halle, während das Totem selbst von seinem Thron oberhalb der Tore hinunter zu grollen schien. Und wo sonst das Feuer hoch über den Toren hell brannte, da flackerte es heute nur mehr, ob des schneidenden Windes. So konnte der junge Bursche nicht anders, als einen flüchtigen aber ausreichenden Augenblick lang hinauf zu sehen und das Schauspiel ehrfürchtig zu betrachten. Mit einem Schauer, der ihm über den Rücken jagte, setzte er seinen Weg fort hin zu der Halle.


Der Schamane kniete vor dem Feuer der Senke und hatte das Haupt schwer auf sein Brustbein sinken lassen. Ehrfürchtig war die Haltung, wie er in Gedanken zu seinem Geist rief und die wenigen Umgebungsgeräusche an diesem Abend einfach ausblendete. Trotz des Getümmels in der Halle war es dunkler und ruhiger, als würde der nahende Sturm das Licht der Feuerschalen und Öllampen dimmen und jeden Laut dämpfen. Als würden die Schatten den Großteil von Feuerschein und Klanf verschlucken und die Hallen der Bärin damit in eine, dem Wetter angepasste, Stimmung tauchen.


In seinem Rücken waren Schritte zu hören. Schlurfend gingen sie über den steinernen Boden, bis sie schließlich verstummten und an ihre Stelle ein unsicheres Räuspern trat. Gernar musste es nicht hören, um zu wissen wer da hinter ihm zum Stehen gekommen war. Er war sich sicher gewesen, dass der junge Kerl seiner Einladung nachkommen würde. Und er hatte Recht behalten. Noch einen Augenblick lang harrte der Schamane aus, ehe er sich auf seinen Stab stützte und langsam aufstand. Der drahtige Körper des Dunklen überragte den blassen Burschen um ein Weites. Sogar noch etwas mehr, als der Blasse seinen Kopf neigte und eine Begrüßung nuschelte.
„Ich wusste, dass du wieder kommen würdest.”
„Woher…?“
„Früher oder Später tritt jeder wieder vor die Große Bärin. Du hast dich für Früher entschieden, Junge.“ Der Blick aus dem verbliebenen linken Auge lag ruhig, doch abschätzend auf dem Burschen, der langsam seinen Kopf senkte. Er murmelte etwas. Worte, die der Schamane hörte, auf die er jedoch nicht einging.
„Komm.“ Der schwarze Norn wandte sich ab und ging mit zielstrebigen Schritten hinaus aus der Bärenhalle in den Zufluchtsfelsen. Er wartete nicht auf den Jüngeren. Wohl war sich der Schamane sicher, dass sein abendlicher Besucher folgen würde. So war es auch. Denn zwei Paar Füße taten ihre knirschenden Schritte über den festgetretenen Erdboden in den Fels hinein, begleitet von leisem klappern und klimpern der vielen Trophäen, die an dem abgegriffenen Stab des Schamanen baumelten.


Der schwarze Norn führte seinen jüngeren Begleiter tief in die spärlich beleuchtete Höhle, vorbei an der gewaltigen, aus Stein gehauenen Bärin und vorbei an den Zelten und Gestalten die sich hier zu dieser Stunde herum trieben. Draußen pfiff der Wind, der hier und da seinen Weg zwischen Gestein und Wurzelwerk in den Berg fand und auch hier drinnen den nahenden Sturm ankündigte. Denn solche Windstöße fanden ihren Weg nur selten in die Tiefen des Zufluchtsfelsens.
Sie waren eine ganze Weile gegangen, bis der Schamane an einer Felsnische inne hielt. Sie war in den Berg geschlagen und höher gelegen, sodass man wenn man sich umschaute fast bis zum südlichen Ausgang der Höhle sehen konnte. Vor der Nische lagen einige platt gesessene Felle, die mit Erde verdreckt waren. Sie lagen wohl schon lange hier und schon viele Norn hatten hier gesessen oder gekniet.
„Setz dich,“ begann der Schamane, der sich selbst jedoch noch nicht auf den Fellen nieder ließ, sondern seine Aufmerksamkeit auf das legte, was sich innerhalb der kleinen Nische befand. Es ähnelte einem Schrein, doch fehlte das große Totem gänzlich. Stattdessen stand auf einem kleinen Steinpodest eine silberglänzende Schale, die über und über mit filigranen Verzierungen bedeckt war. Der Bursche konnte nicht nur die großen Vier sehen, sondern auch andere Tiere die dargestellt wurden. Hase, Otter, Dolyak, ein seltsames Tier mit gewaltigen Vorderläufen und einem nornähnlichen Kopf – dieses kannte er nicht, traute sich aber auch nicht zu fragen. Schweigend sah der Blonde zu, wie der Schamane eine weitere kleine Schale hervor zog die bei Weitem nicht so kunstvoll verziert war. Dort legte er, nach einigen Augenblicken der Ruhe, eine der glühenden Kohlen hinein, die in der großen Silberschale qualmten. Anschließend verneigte sich der Schamane vor dem seltsamen Schrein und setzte sich mit der kleinen Schale dem Burschen gegenüber auf den Boden. Seine Bewegungen hatten etwas ruhiges, sie waren unauffällig in der ohnehin schon dunklen Umgebung, die den großen Norn zu verschlucken drohte. Dennoch konnte der Bursche sie gut wahrnehmen und ein Stück weit fiel die Anspannung von ihm ab, während er den weiteren Handgriffen der schwieligen Pranken folgte, die auf den Kohlen rasch das Räucherwerk zum Qualmen brachten und damit den leichten Geruch von Kräutern und Gewürzen verbreiteten.


„Ich werde dir deinen Weg zeigen, wenn du weiter auf diesem geradeaus gehst. Du selbst bist verantwortlich, ob du ihn wählst,“ tief und ruhig klang die Stimme des Schamanen durch den dicken weißen Rauch, der zwischen den Körpern aufstieg und sich nach und nach verteilte. Mit einer einfachen Handbewegung wischte der Ältere durch den Rauch und begann mit leiser, aber fester Stimme zu sprechen, während sich der Qualm zwischen ihnen zu kleinen Bildszenen zu manifestieren begann.


„Er gibt dir Kraft und Macht. Er kann dir das schenken, was du dir in deinen kühnsten Träumen nicht auszumalen wagst. Dinge, die so unerreichbar erscheinen, sind mit seinem Zutun so nah wie nie.“


Die Bilder im Rauch wurden klarer. Jorn erkannte eine Reihe an Norn, die Seite an Seite standen. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, was dieser einzelne große Stuhl bedeutete vor welchem sich die Norn versammelt hatten. Es war der Stuhl von Knut Weißbär. Und davor wirbelten zwei Norn, ein Junge und ein Mädchen, in inniger Umarmung und einem leidenschaftlichen Kuss. Das war er. Er sah sich selbst mit dem Mädchen, dem er schon seit vielen Wintern nachlief. Und in dieser Illusion aus gräulich weißem Schleier küsste er sie. Die Norn um sie herum, teils von verdorbenem Eis überwuchert, jubelten ihm zu.


„Doch was ist der Preis, den er von dir verlangt?“


Mit einer schlichten Handgeste schlug der Schamane in das wunderbare Bild und verwirbelte den leicht duftenden Rauch zu einem grauen Brei, der so einen Augenblick lang stehen blieb, bis sich neue Szenen bildeten und sich langsam veränderten. Da war er, Jorn, der junge Bursche im stummen Schrei auf den Knien, während sich gewaltige Eisbrocken scheinbar aus seinem Körper hoben und seine Erscheinung unnatürlich und grässlich machten. Er wütete mit seinen Waffen durch Reihen von Norn, tötete und meuchelte und hinterließ eine Spur aus Verwüstung, Hass und Tod. Der Rauch drehte sich kurz und dem Korrumpierten stand ein Norn gegenüber, der gerade seine Klinge aus dem Verdorbenen zog. Jorn zuckte zurück, als er sah wie sein verdorbenes Ich sterbend auf den Boden fiel und verschwand. Als nächstes sah er Tiere – nein, Tiergeister waren es. Sie standen ihm gegenüber, worauf das Bild sich wieder um sich selbst drehte und abermals zu dem grauen Brei aus Rauch wurde. Schluckend starrte Jorn in den Rauch und letztlich auch zu dem Schamanen, den er vage hinter dem Rauch erkennen konnte.


„Es gibt den schweren Weg. Bei ihm musst du selbst die Initiative ergreifen. Es wird dir nichts in den Schoß fallen und so manches Mal wirst du vor einer Gabelung stehen und nicht weiter wissen. Doch deine Taten werden dir Freunde an die Seite stellen, sowie die Motivation und das Streben nach einer großen Legende. Und es gibt den einfachen Weg. Jormag wird dir die Fähigkeiten geben, um deine Ziele zu erreichen. Er wird dir die Macht geben das zu tun, was du willst, solange er es will,“ der Schamane machte eine Pause und atmete den Geruch des Rauchkrautes in tiefen Atemzügen ein. Währenddessen erschienen in den Rauchschwaden abermals zwei Gestalten. Eine zeigte den Jungen ehrfürchtig vor der Großen Bärin kniend und die Andere zeigte den selben Jungen vor dem Drachen Jormag.
„Junge… Jorn. Ein weiser Mann sagte einst, es gibt den leichten Weg und den Richtigen. Für welchen also wirst du dich entscheiden?“

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 2

  • Uuuh! Dankeschön! :)

  • *Hat gebannt die Geschichte gelesen.*
    Die ist mal wieder wirklich großartig!
    Ich find die Geschichte klasse!
    *Direkt noch mal lesen*
    :3