Bocksbeutlers Stadtflucht


Doricsee, vor Neulehmwald - zu einer friedlichen Zeit



„Sie wäre eine fantastische Schwiergertochter! Kennenlernen solltest du sie, wirklich. Dafür lohnt es sich auch mal in die Stadt zu gehen!“ Der alte Bocksbeutler lachte herzhaft, schob sich die Pfeife wieder in den Mund zurück und kraulte sich den Rauschebart. Die Angelrute lag lose in der Hand des Mittsechzigers.
„Du bringst das Boot zum Wackeln und vertreibst die Fische.“, murrte sein halb so alter Sohn, ebenfalls mit ansehlicher Gesichtsbehaarung, Pfeife und Angelrute ausgestattet.
„Sie hätte mich auf der Stelle geheiratet, wenn ich halb so alt gewesen wäre. Du bist also die natürliche Wahl, Skoyvn. Das bekommt ihr also ganz fix hin, nächstes Jahr gibt es dann Enkel Nummer Acht.“
„Neun, Papa. Du hast schon acht.“
„Ach, richtig!“ Der Alte lachte auf. „Also, machst du's?“
Der Mann schüttelte den Kopf, wusste er doch nicht mal von wem sein Vater da schon wieder sprach.
„Jung, blond, scharfzüngig und eine Priesterin Grenths.“, sprach der Ältere weiter.
„Klingt wie meine Mutter. Nur ohne blond und jung.“, kam es trocken vom Sohn zurück.
Der Alte musste sofort wieder auflachen.
Und bald brach auch die stoische Fassade des 'einsamen Wolfes', wie Gulmyvu seinen wortkargen Zweitgeborenen im Spott gerne nannte.
Dieser prustete, grunzend lachte er durch die Nase während seine Schultern begannen zu beben. Das Kraut in ihren Pfeifen war nicht gänzlich unschuldig daran.
Die beiden Angelschnüre warfen nun Wellen, was die Fische davor bewahrte auf dem Esstisch der Familie Bocksbeutler zu landen.
Entspannt seufzend lehnten Vater und Sohn sich auf dem Bänckchen des kleinen Fischerbootes zurück. Wenn sie länger brauchten einen Fisch an Land zu ziehen, konnten sie auch länger hier draußen auf dem See verweilen und gemeinsam die Natur genießen.
Denn es war ein wunderbarer Tag.
Es war Mittag, die Sonne schien, Boote und Schiffe dümpelten friedlich auf dem Doricsee umher. Die Zeit schien still zu stehen. All die Sorgen, Nöte und Intrigen von Götterfels auf einen Blick vor ihnen, aber doch unendlich weit entfernt von ihrem Idyll.
Lange schwiegen sie.
„Man könnte meinen die Quaggan haben wieder in meinem Territorium gewildert...“, sprach Skovyn schließlich.
Doch da sprang der Vater des Fischers auf einmal in kindlicher Freude auf, brachte das Boot zum Wackeln und begann die Angel einzuholen.
„Ich hab' einen, ich hab' einen!“
Skovyn half seinem Vater die Angel zu packen und das Biest von einem Fisch einzuholen.
Sie jubelten auf ob seiner Größe.
„Melandru dankt dir für dein Opfer...“, sprach er zum Fisch, als der am Boden des Bootes zappelte und zu ihnen aufsah.
Wie sehr würde er all das vermissen.





***






Mit gefülltem Magen setzte der junggebliebene Melandrupriester seine Wanderschaft fort. Es war schön gewesen seinen Zweitgeborenen wieder zu sehen, in seinem kleinen einsamen Haus am See. Zuvor hatte er seine Tochter und ihre Familie im Holzlager besucht - bei Skovyn war es zwar bedeutend stiller gewesen, was aber auch nicht unbedingt etwas schlechtes war.
Die kleine Dily konnte ganz schön plärren.
In sein Ohr!
Und wenn er eins nicht mochte, dann laute Geräusche direkt neben seinem Ohr!
Doch er hatte noch einige Stationen vor sich.
Zunächst wurde der Tempel der Sechs besucht, einer Dolyakmutter beim Kalben geholfen und anschließend – wie jedes Jahr – übernahm er die letzte Ölung für die alte, ach so todsterbenskranke Lucilla. Sie wurde immer krank wenn sie mitbekam, er sei in der Nähe.
Er nahm es als Kompliment!
Sein letztes Ziel dieses Tages war Melandrus Zuflucht. Er würde der Naturgöttin und ihren Baumhirten einen Besuch abstatten. Und seinen beiden Schwestern.
Er passierte die große, alte Weide, da spürte er schon ihre Anwesenheit.
Das Rascheln, Knacken und Brummen war schon am Waldesrand zu hören, friedlich wandelten die altehrwürdigen Wesen in den Schatten der Bäume umher, schoben ihre knorrigen Pranken durch den Sumpf. Eine Weile beobachtete er sie, wie sie ihre Kreise zogen. Wie die Zweige der friedlichen Riesen in den Winden wogten.
Es war ein warmer Wind heute.
Ein Schwarzkehlchen landete auf einem der Baumhirten, welcher unbeeindruckt weiterstampfte, begleitet vom Singen des Vogels auf seinem Rücken.
Schließlich trat Gulmyvu hinein in das Dickicht, sein Ziel war die Melandrustatue.
Zum Gebet ließ er sich im Schneidersitz nieder. Um ihn hörte er das beruhigende Knarren und Stapfen seiner alten Freunde.
In der Höhle, deren Eingang neben der Statue lag, waren so viele zur Ruhe gekommen. Bartholos, der erste der Seraphen etwa. Es war ein wundervoller Ort, vielleicht würde er selbst eines Tages auch einmal dort verbleiben.
Aber das hatte noch Zeit.
Er war unentschlossen, denn auch freier Himmel war ihm wichtig über seiner letzten Ruhestätte.
Womöglich war ihm das in den Nebeln aber auch alles egal.



Der Priester verbrachte etwa eine Stunde in Meditation, es dämmerte bereits zum Abend hin. Die Baumhirten spazierten noch, die Vögel waren verschwunden. Bald würden sich die Fledermäuse zeigen, auch die großen. Aber er wusste, wie er sie fernhalten konnte.
Er nahm die Panflöte aus seiner Tasche und begann langsam zu spielen. Er war nie ein außenordentlicher Musikant gewesen, doch einzelne Töne sanft formen, das konnte er. Die Baumhirten blickte kurz zu ihm herüber, zogen dann aber weiter ihre Kreise.
Bis auf einen von ihnen.
Er bewegte sich auf den Priester zu.
Dem Wesen fehlten die Augen. Ein Tölpel hatte ihm vor Schreck eine Ladung Schrot ins Gesicht geballert. Der Tölpel war sein Erstgeborener Borys gewesen und es war vielleicht zehn Jahre her.
'Schrot', so nannten sie den blinden Baumhirten seit dem.
„Na, lässt du dir auch 'nen Bart stehen?“, fragte er warm, kraulte dem Baumhirten am fasrigen Bart. Der knarzte wie altes, weises Holz. Gulmyvu legte ihm die Hand an das Gesicht, pustete wieder in die Flöte. Ein sanftes Wummern ertönte, worauf der Baumhirte ein knorriges Zirpen erwiderte.
Schrot war fabelhafte Gesellschaft. Und die Fledermäuse hatten größten Respekt vor ihm.



Es war schon dunkel, als sie sich voneinander verabschiedeten. Gulmyvu stieg hinauf auf den mit Stegen umwundenen Baum, von dem aus man den See, die Wälder, die Dörfer und die leuchtende Stadt überblicken konnte. Er ließ sich an der höchsten Stelle nieder, die Beine baumeln lassend. Hier hatte er damals die Asche seiner Schwestern verstreut.
Diese Extrawünsche immer von jedem!
Aber so war nun mal seine Familie.
Jeder wollte an einem anderen, noch schöneren Ort beerdigt sein, oder verstreut, oder versenkt.
Langsam musste er sich auch Gedanken darüber machen, wo er selbst denn mal seine letzte Ruhe finden wollte.
Aber das hatte ja noch Zeit.





***





In der Nähe – Zu einer anderen, dunkleren Zeit



Was hatten sie ihnen angetan...
Wie viel Hass und Bösartigkeit musste in jemandem stecken, soetwas zu tun, wie viel Grausamkeit war nötig?
Die Kisten und Fässer, befüllt mit den schrecklichen Blutsteinkristallen, sie waren nicht zufällig in Melandrus Zuflucht abgeladen worden. Nichts war aus Zufall passiert. Die schützende Kuppel über der Stadt, der geleerte See, die fliegenden Geschosse...
Möge jeder, der deinen Garten schänden will, gegeißelt sein von deinen Dornen und gepeitscht von deinen Ästen, fiel ihm eines der martialischeren Mantras der Melandrupriesterschaft ein, eines das man vornehmlich zu Kriegszeiten hörte.
Eine Spur der Verwüstung, sinnlose Zerstörung...durch gottlose Menschen.
Er atmete durch, die Wut tat ihm nicht gut.
Gewalt war die erste Natur des Menschen. Doch Friedfertigkeit konnte seine zweite sein.



Nun musste er hier weg, sich sammeln. Nach Neulehmwald zurück. Oder über den Boden des Sees, Hilfe holen.
Denn die war zweifellos auf dem Weg.
Aber auch die Gottlosen waren hier.
Drei Gestalten auf dem Hügelchen blickten schweigend auf ihn herunter. Einer war bullig, gerüstet, trug einen Vollhelm. Eine war zierlich, langes blondes Haar, zur Seite gekämmt, wie es heutzutage so Mode war, in Leder gekleidet. Der Dritte trug eine Makse auf dem völlig haarlosen Kopf.
Jung schienen sie, allesamt.
Ihre blasphemischen Insignien ließen ihn schwer seufzen.
Schweigend beobachteten sie ihn. Wie er versuchte auszuweichen, einen Bogen um die Seite zu schlagen.
„He, Opa!“, kam es metallisch dumpf vom Helmträger.
Gumlyvu versuchte einfach weiterzugehen, als seien es Pöbler am Straßenrand. Er flüsterte ein Gebet an Melandru. „Dass unsre Rinde niemals birst...“
Und genau wie Pöbler am Straßenrand nahmen sie in langsamen, lauernden Schritten die Verfolgung auf.
„Die Waffe weg!“, rief der Helmträger ihm hinterher. Irgendwie...ironisch klingend, die Blonde kicherte belustigt auf.
„Das ist keine Waffe.“, sagte Gulmyvu, als sie ihn bald darauf umzingelt hatten.
Er stolperte und stürzte nach vorne, als der Ritter ihm gegen das Stabende kickte und ihn mit leeren Händen zurückließ. Der knorrige Wanderstab rollte den Hügel hinab.
Gulmyvu erhob sich auf allen Vieren, stand auf und wollte zu seinem Stab gehen. Der Ritter trat ihm gegen den Knöchel, was ihn die Zähne aufeinanderbeißen, wieder zusammensinken ließ.
Doch er stand erneut auf, wieder auf dem Weg zu seinem Stab.
Diesmal sprang die Blonde ihm in den Weg.
„Habt ihr nicht...höhere Ziele als einen alten Mann zu schikanieren?“, fragte er müde, resigniert.
Sie würden immer so weiter machen.
Die Blonde überlegte, zwinkerte dem Kahlköpfigen zu.
„Eigentlich ja schon...“ Sie zückte einen Dolch, in arrogant lässiger Art drehte sie ihn zwischen den Fingern.
„Eigentlich...“, wiederholte Gulmyvu nur leise brummend, schüttelte den Kopf. Da versetzte sie ihm einen Stich in die Seite, was ihn aufheulen ließ. Er hielt sich die blutende Stelle, abermals sank er nieder, auf die Knie. Kühlende, magische Linderung formte sich um die Wunde. Diese würde er überstehen. Wenn es nicht noch mehr wurden.
„Hast du irgendwas gutes dabei Alter, hm?“, fragte der Kahlköpfige, zog ihn am Gürtel und riss all die Beutel herunter, in denen er in endlosem Fleiß Kräuter, Tabak, Samen und Pülverchen gesammelt hatte.
Doch als erstes wurde der Beutel mit den wenigen Kupfermünzen geplündert.
Die Säckchen wurden herumgereicht, geöffnet und daran gerochen. Alles was nicht sofort als Rauschmittel identifzierbar war, wurde auf den Boden oder über den Priester ausgeleert und zertreten.
„Was'n das?“ Die Blonde zog die Flöte aus der Tasche, wiegte sie in der Hand. Sie pustete hinein. Erst klang es schwach, die Gruppe lachte, dann bemühte sie sich und der altbekannte Ton erklang. Immer wieder pustete sie hinein, irgendeine lächerliche Fanfare wurde gespielt.
Im Wald regte sich etwas.
Gulmyvu begann zu kriechen, er versuchte nicht wieder aufzustehen. Ihm wurde nun weniger Beachtung geschenkt, als die Plündergüter untersucht wurden.
„Kannst du behalten.“, kam es allerdings vom Behelmten, als er ein Säckchen in sein Gesicht warf. Es waren Nelken.
Die Blonde lachte wieder laut, als der Maskierte sich Glitzerstaub durch die Nase zog und rotzen und nießen musste.
Noch nie hatte das Lachen eines jungen Menschen so viel Unbehagen und Kälte in ihm hervorgerufen.
Er lehnte sich an einen Baumstumpf, sah zu wie sie da im Reigen standen. Der Behelmte sah ab und an zu ihn, zeigte einmal auf ihn.
Du bleibst.
„...frag' ihn halt mal.“, sagte der Maskierte gerade, als sie über den Inhalt eines Säckchens rätselten. Der blonde Spaßvogel kam daraufhin auf Gulmyvu zu, hielt ihm die Flöte ans Ohr und pustete laut hinein, dass er die Augen zukniff und schützend die Hand vors Gesicht hielt.
Da wurde gelacht.
Wurzeln im Sumpf brachen.
Der Ritter trat ihm in die Seite. Der Priester hatte das kommen sehen, daher traf der Stiefel nur auf bröckligen Stein, der den Tritt zumindest so weit abschwächte, dass er keinen inneren Schaden nahm. Er sah hinauf zu dem mit Stegen umwundenen Baum.
Er danke Melandru im Stillen für den Zauber. Seine Rinde sollte nicht so schnell bersten.
Die Blonde tänzelte und flötete wieder.
Ein Stampfen, ein holziges Knurren. Stampfen.
Etwas Großes verließ den Sumpf.
Der Baumhirte, Schrot, trat auf allen Vieren aus dem Sumpf hervor. Langsam, geduldig schien es, pirschte er auf die Menschen zu.
Aber er war nicht mehr er selbst.
Der Blutstein hatte ihm den Wahn in den Körper treiben lassen. Ein türkises Leuchten durchzog seinen Körper sowie seine dicken, nun blattlosen Zweige.
Doch an die Flöte erinnerte er sich noch, hatte ihn angelockt wie seit Jahren schon.
Ein Unterarm der Bestie war so groß wie der Ritter selbst. Er war noch immer blind, auch wenn nun ein rotes Leuchten aus den Augenhöhlen drang.
Aber das wussten sie nicht.
Gulmyvu schleppte sich weiter zu Seite, hinter einen Baumstamm.
Er überließ den Jungen das Feld, die das Ungetüm bemerkt hatten, sich in einer Dreierreihe aufstellten, der Behelmte schützend vor den beiden Kameraden.
Das Biest kam näher, der Ritter hob entschlossen sein Schwert.
Der Maskierte fasste die Blonde an der Hand. „Geh!“ sprach er bestimmt. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Da machte die Bestie einen schnellen, trampelnden Satz auf sie zu, der die Erde beben ließ – wenige Meter stand Schrot nun vor ihnen. Und dann erhob er sich auf seine Hinterbeine...der Anblick lähmte die jungen Mantelkämpfer, als der Baumhirte sie um Längen überragte und seine Klauen emporhob.
„Dann zeig' mal was du kannst...“, kam es noch trotzig und blechern.
Und die Klauen kamen wieder herunter, mit grauenvoller Macht.
Der Schild, der Helm, die Rüstung - alles was den Ritter schützen sollte wurde von den Fäusten des Hirten zerquetscht, in einer rote Explosion - aus Blutstein und aus dem Saft, der ihm den Namen gab.
Die beiden übrigen stürzten auf die Rücken. Sie schrie auf, er im Entsetzten gelähmt.
„Ruf ' es zurück!!“, rief die Blonde panisch zum Priester herüber.
Eine Pranke zerdrückte dem Maskierten den Brustkorb, ein letztes Gurgeln ertönte.
Die Blonde schrie gequält auf, ihr Kopf ruckte zum Priester.
„Pfeiff deine Bestie zurück!!“, brüllte sie, Tränen in den Augen.
Langsam, mit traurigem Blick und glasigen Augen schüttelte er den Kopf.
Es war nicht seine Bestie.
Es ist eure Bestie..., formte er still mit den Lippen, ehe er den Zeigefinger davorhielt, sie langsam herwinkte.
Sei still. Komm her.
Aber es war zu spät für Ratschläge und Weisheiten.
Jede Spur der frechen Arroganz war aus dem Ausdruck des Mädchens gewichen, als die Pranke auf sie niederfuhr und sie zerstampfte.
Der Priester schloss die Augen.
Leidet dieses Land, so werdet ihr leiden.



Gumlyvu hörte wie die Bestie knurrte, sie drehte sich einmal im Kreise herum, bewegte den Kopf, als halte sie Ausschau.
Er sah das blaue und rote Leuchten durch seine geschlossenen Augen hindurch.
Schrot stellte sich neben den Priester...und verharrte einen Moment. Ehe er wieder zurück in das sumpfige Dickicht stampfte.
Zurück zu seinen geliebten Kristallen.

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