Als Adrian Iorga aus Löwenstein zu Besuch kam, war Helena nicht im Mindesten vorbereitet. Sie hatte ihn nicht erwartet, deshalb erstaunte sein plötzliches Auftauchen sie umso mehr. Sie hätte es ihm vielleicht übel genommen, dass er sich nicht angemeldet hatte, obwohl er das eigentlich nie tat, aber sein Anblick war für sie eine derartige Überrumpelung, dass alles, was sie diesbezüglich zu ihm sagte, war: „Was ist mit deinem Auge?“
Er sah frisch aus, wie immer, ein Mann, dem die Welt gehörte, zumindest jener Teil davon, den er gerade für sich beanspruchte. Seine Garderobe war auf Maß gearbeitet, seine Bewegungen präzise in einer Weise, die man beherrschte oder nicht, aber niemals nachahmen konnte, wenn man sie nicht selbst an sich hatte. Sein Haar war gewaschen und gescheitelt, seine Rasur tadellos, und um sein rechtes Auge leuchtete, wie mit dem Pinsel dorthin gestrichen, ein dunkelviolettes Veilchen.
„Ich bin ein paar Mal ungünstig gegen einen Tisch gelaufen“, behauptete er so unvernünftig wie besonnen und hatte, als er das Büro betrat, immer noch diesen Tritt an sich, als wäre es das seine. „Ist Lynn da? Sie war neulich in Löwenstein. Warum hat sie mich nicht besucht?“
„Weil...“ Helena stand auf. Der thronhohe Stuhl hinter dem Podest kam ihr zu groß vor, sie selbst darauf zu klein, um den Eindruck zu erwecken, den sie gerade ausstrahlen wollte. „Es nicht immer nur um dich geht, nehme ich an. Wer hat dich geschlagen?“
„Was meinst du?“ Adrian drehte sich nicht einmal nach ihr um. Er hatte sich gutgelaunt zur kleinen Bar im anderen Teil des Büros begeben und schenkte sich ein Glas Branntwein ein. Bei den Getränken war er überhaupt nicht wählerisch, nie gewesen, ganz anders als bei Speisen.
Neulich, als Helena mit Lynn, Roy, Dastin und Revios in der Wunderlampe gesessen hatte und das Thema aufs Trinken gekommen war, hatte sie daran gedacht. Ihr war der Gedanke gekommen, wer aus der Familie der entsetzlichste Trinker war; wer es am meisten im Blut hatte. Wem sah man es am wenigsten an? Ihr war Leon eingefallen, aber dieser Gedanke war lachhaft gewesen, denn ihr Bruder hatte gesoffen und gearbeitet, bis ihn der Schlag getroffen hatte. Dass man ihm die Sauferei nicht ansah, konnte also keiner behaupten, der ihm auch nur einmal ins Gesicht gesehen hatte. Da zog sich die Spur seines Lebenswandelns wie eine schiefe Schneise mitten über seine Fratze. An die Alten hatte sie keinen Gedanken verschwendet, auch ihnen hatte der Suff auf seine Weise zugesetzt, vielleicht mehr innerlich als äußerlich. Sie selbst kam ebenso wenig in Frage. Helena konnte trinken wie ein Seefahrer und stand dabei gerade wie ein Mast, aber sie hatte zu wenig Masse, um sich mit den anderen messen zu können. Narcis und Banel fielen raus, Kolja und Levi waren von vornherein ausgenommen, die Angeheirateten zählten nicht, die weiter entfernt Verwandten kamen ihr nicht in den Sinn. Vielleicht Alesha, hatte sie gedacht. Oder Adrian. Dann hatte irgendein nichtiger Gesprächsgegenstand ihre Aufmerksamkeit von dieser Frage abgelenkt.
„Ich meine dein Auge“, erläuterte Helena und zog mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihr eigenes.
„Oh. Mein Auge. Achso.“ Er lachte leise. „Mein Auge hatte eine Auseinandersetzung mit einem Knie. Keine Sorge, dem Knie geht es gut.“
Während Helena ihren Vetter beobachtete, fragte sie sich, wie ein Mensch so jung geblieben und dabei so alt geworden sein konnte. Er hatte diese Leichtigkeit an sich, die mehr war als ein Kostüm, aber Schärfe schnitt sich zu tief in seine Züge. Als hätte jemand ihn gezeichnet, mit einem zu harten Stift.
„Was machst du hier, Adrian?“
Adrian nickte mehrere Male. Endlich drehte er sich und sah Helena an. Das Veilchen leuchtete heller als sein blondes Haar. Beunruhigt war Helena aber wegen der Art, wie er sie musterte.
„Was ist das mit Revan Libanez?“, fragte er.
„Wie?“ Sie blinzelte, lächelte, spielte dicht an dicht mehrere Mienen auf, mit denen sie sich für unschuldig hielt, und schaffte es doch nicht, ihre Überraschung zu verbergen.
„Seit Cionar in Götterfels war“, spaltete Adrian auf, hob sein Glas veranschaulichend und leerte es die nächste Sekunde. Es knallte, als er es abstellte, obwohl er keine Gewalt dafür verwandte. „Stimmt irgendwas nicht. Er verschwindet. Er klärt Dinge. Und dann erfahre ich, dass du im selben Zeitraum weg warst.“
„Ja, na und? Ich bin oft weg. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Adya. Ich führe ein Geschäft.“
„Ich hab euch an Wintertag gesehen, Helena.“
Alles an Adrian bat sie, ihn nicht anzulügen, ihm nicht die Mühe zu machen, weiter gegen sie anreden zu müssen.
Helena zögerte. Sie hatte längst verstanden, dass jeder Widerspruch, den sie ihm gab, ihn nur misstrauischer machen würde. Und zu Recht. Er wusste, was er wusste. Lynn hatte Helena gegenüber angedeutet, dass solche Dinge nicht lange geheim bleiben würden.
„Weiß Nicolae davon?“, fragte sie ruhig.
„Was?“ Adrians leises Lachen war nur mehr ein Ausdruck seines Ärgers. „Nein. Sonst stünde wohl nicht ich jetzt hier. Du kannst dir vorstellen, was er davon hält, wenn du dich an seine Leute ranwirfst?“
„Adrian. Bitte. Sag nicht 'ranwirfst'. Das klingt so verkehrt.“
„Es klingt, wie es ist! Zumindest würde er es so verstehen.“
„Revan ist ungefähr tausend Jahre alt!“
„Darum geht es doch nicht, Helena. Du kannst nicht Nicolaes Leute unterwandern! Warum zwingst du mich, dir so einen Besuch abzustatten?!“
„So einen Besuch?“ Starre war in sie Gefahren, ein Lauern. Als ihre Hand an die Futterale um ihre Hüfte fuhr, rollte ihr Vetter wehmütig mit den Augen.
„Nicht so einen Besuch.“ Er klang mild. Er klang, als wäre sie töricht. Er klang viel zu sehr wie sein eigener Vater, vor dem er sie gerade warnte.
Lange starrte sie ihn an.
„Hast du das Veilchen von Revan?“, fragte sie dann.
Adrian füllte sich nach, trank Zweifingerbreit in einem Zug und knallte das Glas diesmal vernehmlicher zurück auf die Bar, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
„Ich weiß Bescheid. Helena. Das sollst du wissen.“
„Dann – wenn du Bescheid weißt – musst du ja auch nicht fragen, was das mit Revan Libanez ist.“
„Du hast Vito, Dato, Enzo, Malidings...“
„Malicia.“
„Richtig. Belass es dabei. Halte dich von Revan fern. Das geht nicht gut für dich aus. Und grüß mir Lynn.“
„Und die anderen?“
„Die anderen können mich mal am Arsch lecken.“
Er vergaß, zum Abschied zu grüßen.
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