Spoilergrund
Aufgrund von Gewaltdarstellung im Spoiler
Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
T.S.Eliot
Geschichte
Er warf die Türe hinter sich mit Wucht zu und rannte in den jungen Abend hinaus. Ohne Schuhe, ohne Socken, ohne Schutz für seine Füße sprang er die Steinstufen hinunter auf den Platz vor dem Haus. Er war kaum drei Meter gelaufen, als sein offenes Hemd und die helle Haut darunter schon nass vom Regen waren, der bitterkalt aus dem Himmel fiel. Dicke Bindfäden stürzten auf die Erde nieder und tränkten sie mit den Wassern der Welt. Dreck und zu Matsch gewordener Staub spritzten auf, als er darüber hinweg lief. Ohne sich noch einmal herum zu drehen, eilte er der Straße entgegen. Die blanken Sohlen rutschten auf dem tückischen Untergrund aus, er strauchelte, stürzte, schlug hart auf die Knie und keuchte, als der Schmerz sich durch seinen Leib bis in seinen Schädel hinauf brannte. Die feinen Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf und er zürnte dem Moment, der ihn hier hinaus getrieben hatte. Mit verbissener Miene kämpfte er sich wieder auf die Beine, ungeachtet der Stimme, die hinter ihm her rief und ihn darum bat umzukehren. Obgleich er es wollte, konnte er es nicht und sie beide wussten das. Sie vielleicht sogar noch eher als er, der sich mit dem schmutzigen Handrücken über die Augen wischte und weiter nach vorne rannte.
Er musste fort und er musste es bald und schnell, denn die Zeit spielte gegen ihn und dass ihm nicht mehr viel davon blieb, war ein dunkler Schatten der Gewissheit, der drohend über ihm schwebte und ihn mit all seiner Last zu erdrücken gedachte.
Weiter, immer weiter. Lauf die Straße hinauf, am Brunnen vorbei, spring über den Zaun in den Garten der Kräuterfrau. Die siebte Latte von rechts hängt nur halb fest genagelt in der Rückwand des Hinterhofes. Bewege sie zur Seite, schlüpfe darunter hindurch, weiter nach rechts, am Fleischer vorbei und über die Fässer mit dem Salz gesprungen, die unter einer Plane ruhen. Achte auf das Loch im Boden, das Pferd brach sich letzte Woche das Bein dort, wie gut, dass es nicht mehr weit bis zum Schlachter war, ums Eck gebogen, wieder ein Zaun, bald eine Mauer, dahinter ein Kompost, lande weich. Raus aus dem Modder und durch den Garten der alten Witwe gehechtet, unter dem Zaun hindurch, der Hund hat ein Loch gegraben, nicht darüber, Splitter. Die Hecke, sie ist nicht dein Freund, achte ihrer Dornen, denn sie wird dich halten. Laufe an ihrer Seite, laufe weiter, weiter, werde nicht von der Ungeduld verleitet, laufe, noch ein Stück und noch ein Stück, noch ein bisschen mehr und Obacht! Da ist das Loch in ihrer Mitte. Schließe die Augen, sie wird dich kratzen, springe hindurch, den Hang herunter gerutscht, gestolpert, abgefangen, weiter gelaufen. Der Bach nähert sich, ein kleines Stückchen noch, springt nicht auf die Steine, die Algen machen sie glatt. Es ist zu kalt. Das Wasser ist zu kalt, der Sprung zu weit. Durchgelaufen, gefroren, das Ufer hinauf geklettert und weiter. Hinaus aus dem Dorf und über die Felder. Der Wald ist nahe. Du musst es bis zum Wald schaffen. Nur bis zum Wald, denn dort bist du sicher. Laufe, auch wenn die Lungen schmerzen und die Muskeln schreien. Laufe weiter, noch ein wenig, weiter, weiter über karges Land und durch den Regen. Er ist dein Freund heute, denn er nimmt die Sicht. Lauf weiter.
Dein Freund. Ein hoher Laut der Überraschung entkam seiner Kehle, als die Welt sich zu drehen begann und er den Boden unter seinen Füßen aus den Augen verlor. Hart schlug er mit dem Gesicht auf den Acker, überschlug sich ächzend und blieb auf dem Rücken liegen, während Wasser und Dreck und Tränen seine Sicht raubten. Seine Brust bebte unter Anstrengung und Aufregung. Er hatte den Hufschlag gehört, das drohende Gewitter hinter sich vernommen, ohne sich nach ihm herum zu drehen. Er war berechenbar gewesen...Niemals mehr wieder.
Den kräftigen Händen, die sich in sein Hemd krallten, hatte er nichts entgegen zu setzen. Er konnte nicht einmal schreien, als es ihn in die Höhe riss und er kurz darauf schon wieder in den Dreck nieder gedrückt wurde. Ein Stein bohrte sich schmerzhaft in seine Schulter. Der Geruch von Regen und Moder drang in seine Nase und machte sie stumpf für den Rest. Er weigerte sich zuzulassen, dass Alkohol und kalter Zigarrenrauch seine Sinne vernebelten, obwohl sie auf ihn eindrangen, als der Regen es nicht mehr tat.
Einen Bastard hatte er ihn gerufen. Einen Schwachsinnigen. Eine Made, einen Mickerling. Überschuss. Unrat. Unwert. Ungestalt. Missgeburt. Wider der Natur. Einen Schwächling. Eine Enttäuschung. Nichtsnutz. Versager.
"Das bin ich nicht!", wollte er schreien. "Das war ich nie!", wollte er rufen. "Lass mich in Ruhe!", brüllte er in seiner Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit. "Geh weg, verflucht!", rebellierte er in seinem Geist. "Entschuldige...", ächzte er in der Realität. "Entschuldige bitte, ich wollte nicht...", stöhnte er ohne Atem, denn die Finger, die an seiner dürren Kehle lagen, raubten ihn ohne Skrupel, ohne Rücksicht, ohne Scham. "Ich wollte nicht...", krächzte seine junge Stimme, während der unbarmherzige Griff seinen Kehlkopf zerquetschte. Während der Schmerz aus den aufgescheuerten Knien lange vergessen war und sich ein neuer, ein viel intensiverer in seinem Verstand ausbreitete. Aufregung vermischte sich mit Furcht, Furcht wurde zu Angst und aus der Angst im Zusammenspiel mit dem Drängen nach Luft und den kreischenden Muskeln, wurde Panik geboren, die lange Finger zu Klauen verformte und müde Beine trieb tretend um sich zu schlagen.
Sich wild windend lag er unter seinem Angreifer, dessen Züge den seinen so ähnlich waren. Dessen Augen voller Bitterkeit herunter starrten und auf den Moment warteten, da die Seele aus dem Leibe zog, die Pupillen sich weiteten und der Glanz aus dem Blick des anderen verschwand.
Der Welt bot sich ein nüchternes Bild. Auf einem großen, kargen Feld, aufgerissen von den Bauern, die es nach der Ernte winterfest gemacht hatten, stand ein Pferd mit herabgeneigtem Schädel . Es trotzte dem Regen, während unweit von ihm zwei Männer miteinander rangen. Ein ungleicher Kampf, ware sie doch einander so verschieden. Das Wetter machte die Szene stumm, denn kein Geräusch war stark genug sich über das Tosen des Kolosssturmes zu erheben, der unablässig auf sie nieder ging. In der Ferne glühten die Lichter des Dorfes, von einer hohen Hecke umgeben, das auf einem kleinen Hügel stand und von einem Bachlauf gekreuzt wurde. Das Wetter war zu schlecht, als dass sich jemand vor die Türe wagte.
Er würde sterben in dieser Nacht. In dieser Stunde noch und sehr wahrscheinlich bereits im nächsten Augenblick. Es konnte keine Rettung mehr geben, hatte er das Knacken gehört und gespürt, schmeckte er das Blut, das seinen Hals hinauf floss, fühlte er den Widerstand, auf den seine Lungen stießen, wann immer sie in ihrer Verzweiflung versuchten doch noch einen Schwall der feuchten, kalten Luft zu erhaschen.
Und dann war es einfach vorbei.
Er hatte das Licht am Ende des Tunnels nicht gesehen. Welch romantische Vorstellung von dem Tod. Er hatte nicht schauen dürfen, wie sein Leben an ihm vorrüber ging. Er hatte nicht die Gesichter seiner Liebsten gesehen, die aus dem Nichts vor ihm auftauchten, während die feinen Adern in seinen Augen zersprangen und das Weiß rot verfärbten. Er hatte nicht einmal die Stimme seiner Mutter gehört, die ihm ein Wiegenlied sang und ihn auf die letzte Reise schickte, begleitete, während er in den ewigen Schlaf sank. Und doch war er befreit. Es stimmte wohl. Der Tod war die Erlösung jeden weltlichen Schmerzes. Er war Rettung und Zuflucht zugleich. Er war voller Milde und reich an Mitgefühl. Und er war kalt. Tatsächlich kalt, so wie die Priester es stets erzählten. Grenth's eisiger Griff hatte ihn gepackt und prasselte auf ihn nieder, wie tausende und abertausende von Regentropfen, die auf seine Haut schlugen.
Regen.
Er fühlte Regen.
Er spürte den Schmerz, der in seinem Schädel kreischte.
Fühlte das Blut, das voller Aufregung in seinen Ohren rauschte.
Er bebte unter dem wilden Pochen seines Herzens und wimmerte, als es ungezählte Male in seiner Brust stach,
während die Luft, die er durch den weit aufgerissenen Mund sog, seine Kehle auf ihrem Weg in die Lunge weiter malträtierte.
Er lebte. Eine Gewissheit, die er nicht begreifen konnte.
Pavel schlug seine Augen auf. Er blinzelte und sah doch nichts. Eine graue Masse erhob sich weit über ihm und bestimmte seine Welt in diesem Moment. Der Regen, der noch immer auf ihn nieder ging, zwang ihn den Arm zu heben und das Gesicht darunter zu verbergen. Er zitterte. Zitterte am ganzen Körper, der aufgeweicht, durchgefroren, zerschlagen und erschüttert in dem Graben des Ackers lag, in den er gewaltsam gedrückt worden war. Matsch rann seinen Unterarm herab und tropfte auf seine Lippen. Mit der Zunge leckte er ihn fort, schmeckte den lehmigen Boden, der nur bedingt zum Anbau taugte. Er hustete. Es überkam ihn plötzlich. So unvermittelt, dass er erschreckte, während er sich auf die Seite rollte, Blut und Speichel spuckte und mit rasselnder Kehle hechelnd am Boden liegen blieb.
Er fühlte den Regen auf seinem wunden Rücken. Er spürte die Kälte, die seine Finger taub machte. Er hörte die Stimmen der Männer, knurrend wie Hunde, die unweit von ihm miteinander rangen.
Sieh nicht hin. Sieh nicht was sie treiben. Sieh ihnen nicht zu. Hilf ihm nicht. Das kannst du nicht. Das hast du nie gekonnt. Und doch hob er seinen Kopf, schwer war er ihm geworden und versuchte zu schauen.
"Lass ihn in Ruhe!", brüllte der Iorga, als er sich auf den Angreifer seines Freundes stürzte und das Pferd erschrocken ausschlug. Ihm war nichts besseres eingefallen. Lass ihn in Ruhe! Es waren Worte, oft und viel gesprochen, die als erstes durch seinen Verstand zuckten und gewöhnlich waren wie der Mann selbst.
Mit Wucht sprang er gegen den Kerl, breitschultrig und bullig wie er und riss ihn von seinem Vetter herunter, dem der gerade das Leben aus dem Leibe quetschte. Die Männer stürzten zur Seite, überschlugen sich durch den Schwung und wurden voneinander getrennt. Sie waren schnell dabei wieder auf die Beine zu kommen und in dem Bestreben dem anderen so wenig Reaktionszeit wie nur irgend möglich zuzugestehen, gingen sie aufeinander los. Sie glichen geifernden Hunden, in eine Arena geworfen einander zu töten, um den Massen der Zuschauer zu gefallen. Die nichts von den Münzen verstanden, die über ihren Köpfen vom bellenden Publikum getauscht wurden, noch ehe der eine dem anderen den Gar ausgemacht hatte.
Sie schenkten sich einander nichts.
Fäuste zogen durch den Regen, schlugen Nasen ein und ließen Brauen aufplatzen. Ein Zahn wurde zur Seite gespuckt, ein Schwall Blut folgte. Dann blitzte eine Klinge auf, jemand grollte, dann ein Stöhnen, ein Laut der Überraschung. Ein Schrei, der verbrauchten Kehle eines Mannes entsprungen, gellte durch den Abend. Ein Fluch in der Sprache der Heimat gerufen und wieder ein Schrei, so voll an Wut und Verzweiflung, dass er Pavel nieder riss. Er stürzte zurück auf die Erde und schlug sich die Hände auf die Ohren. Er würde ihn niemals mehr vergessen.
Jede Generation brauchte ihren einen Iorga. Das hatte sein Onkel stets gesagt, wann immer die Familie zusammen gekommen war. Jede Generation brauchte diese eine Person. Den Mann, der dafür Sorge trug, dass die Dinge liefen. Den Mann, der zurück trat, die Aufmerksamkeit auf sich zog und den reibungslosen Ablauf der Geschäfte sicherte. Jede Generation brauchte ihn. Es war die Wahrheit. Zumindest jene, die er zu glauben gelernt hatte. Heute erfuhr er was geschah, wenn die Männer, die dazu gemacht waren eben jene Rolle zu erfüllen, aufeinander trafen. Geformt aus dem selben Fleisch und gefüllt mit dem gleichen Blut. Getrennt nur durch das Alter und die Erfahrung. Von der selben Gestalt, vom selben Schlag. Pavel erschauderte. Der Mann, der noch immer nicht recht zu atmen wusste, fürchtete sich den Kopf zu heben. Er war ein Feigling und er wusste darum. Er hatte niemals etwas anderes behauptet. Hatte niemals dem Land gedient in seinen Armeen, niemals die Waffe erhoben gegen jene, die seiner Familie Böses wollten. Er hatte es stets versäumt Position zu beziehen, wenn es an ihm gewesen wäre. Er hatte sich niemals eingesetzt für jene, die ihm lieb waren. Hatte niemals gelernt sich durchzusetzen. Ein Feigling, so wie es die Definition beschrieb. Ein Verräter obendrein. Ein Dieb, der gegen die Regeln verstoßen hatte. Ein Taugenichts. Eine Enttäuschung.
Und dann hob er ihn doch.
Blaue Augen starrten auf eine Hand, die ihnen entgegen gestreckt wurde. Dicke, kräftige Finger, verschmiert von Substanzen, die bei diesen Lichtverhältnissen nicht zugeordnet werden konnten. Ein freundliches, marginales Zucken lud dazu ein sie zu ergreifen. Und er tat es. Mit einem Ruck wurde er auf die Beine gerissen. Mit einem Griff, der sich auf seine Hüfte legte, bekam er den nötigen Halt, bevor sein Kreislauf und sein Verstand begriffen hatten, dass es weiter gehen würde. Die beiden Männer sahen einander an. Sie schwiegen, schauten, fühlten einander in diesem Augenblick, der so wenig war, dass er es niemals vermocht hätte die Aufmerksamkeit eines unbeteiligten Wanderers auf sich zu ziehen. Ein Moment, der trotz allem überdauerte.
"Geh heim."
Damit hatte er nicht gerechnet und trotzdem tat er es.
Er ging. Er griff sich das Pferd, kämpfte sich in den Sattel und ritt davon.
In Richtung des Waldes, in dem er sicher war.
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