Inhaltswarnung
Wahnsinn & Es wird Gewalt beschrieben
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Geschichte:
“Wir danken der Erde, die alles bereitet,
wir danken dem Mond, der die Erde begleitet,
wir danken der Sonne, die alles bescheint,
und auch dem Tisch, der uns vereint.”
Uff, ich habe gar keinen Hunger. Stumm starre ich auf den großen Teller. Moafleisch und Spargel, dazu Salat. An anderen Tagen hätte ich schon längst losgelegt, aber heute ist mir nicht wohl.
“Mutter, habt Ihr den Ritter gesehen, den ich gemalt hab’?” quäkt Ryder laut neben mir los.
“Oh ja, das habe ich. So ein prächtiges Pferd. Du malst sehr viele Ritter, möchtest du später einer werden?” ertönt Mutters Antwort.
Ich verdrehe die Augen. Ich habe sein Bild gesehen. So toll ist es wirklich nicht. Das Pferd könnte man für einen Brotkasten mit Besenstielen als Beine halten. Ich verkneife es mir mühsam, das auszusprechen.
“Na klar!” erklärt mein Bruder stolz, seine Augen glänzen sogar.
Ich schnaube. “Ein Ritter, der anfängt zu weinen wenn er ein echtes Pferd sieht!”
Autsch. Bestimmt wirft sie mir gerade einen strafenden Blick zu, aber ich starre noch immer das Essen an und versuche, nichts mehr zu sagen. Ich sollte nicht so gemein sein, ich kann doch selbst gar nicht malen. Ryder probiert es immerhin.
“Wenigstens mag ich Rittersachen! Du spielst doch mit Puppen, du Blödian.” kann er sich eine Antwort nicht verkneifen.
Mutter weist ihn zurecht, wir sollen nicht fluchen, aber ich höre schon gar nicht mehr zu, ich bin ganz woanders.
Spitze, Lücke, Spitze, Lücke, Spitze, Lücke, Spitze. Die Gabel liegt kalt und schwer in meiner Hand. Die Zacken sind lang und dünn. Früher habe ich Kuchengabeln zum Essen bekommen, wie jetzt meine Brüder. Lyn wird auch irgendwann mein Kinderbesteck haben. Seit meinem siebten Geburtstag kriege ich das große Besteck, als wäre mein Mund über Nacht plötzlich größer geworden. Ist er nicht, aber ich bin trotzdem froh. Ich hasse Gabeln mit drei Spitzen.
“Mädchen, Mädchen, du kleines Mädchen!!” plärrt mein Bruder, damit ich ihn wieder beachte. Kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
“Ach sei doch still. Schau mal in deine Hose und sag nochmal, dass ich hier das Mädchen bin!” zische ich zurück. Wie gemein!
“Meine Herrschaften, jetzt ist aber Schluss! Und du, hör auf deinen Bruder zu provozieren. Was ist denn heute los mit dir?” schaltet sich Vater ein.
Himmel, ich sollte mir das Maul stopfen. Missmutig spieße ich ein Stück Moa auf und zerschneide es. Wofür haben wir überhaupt Gabeln? Ich betrachte das Besteck nachdenklich. Hmh. Um in das Fleisch zu stechen, es ohne Finger fest zu halten und zu schneiden. Ich nicke in Gedanken, das macht Sinn. Schon erstaunlich, dass man so ein stumpfes Ding in Fleisch stecken kann. Es ist ja gar nicht scharf, wie ein Dolch oder ein Schwert. Ob man eine Gabel auch einfach so in einen Moa stecken könnte? Vielleicht in den Hals, wo die Federn nicht so hart sind. Komisches Bild, ein Moa mit einer Gabel im Hals. Und er hat gar keine Hände, um sie wieder heraus zu ziehen! Bestimmt geht das gar nicht. Vielleicht wird Fleisch weich in heißem Wasser, so wie Nudeln? Lebendiges Fleisch kann doch nicht so weich sein.
Mein Blick zuckt zu Ryder und ich denke darüber nach, ob ich die Gabel denn so leicht in seinem Fleisch versenken könnte, wie in dem Stück auf meinem Teller. - Nein, das Gesicht ist doch hart. Und total verschmiert. Er hat überall Soße um die Schnute, wie ekelhaft! Vor zwei Jahren habe ich sauberer gegessen, da bin ich mir sicher. Er sagt irgendetwas weil ich ihn ansehe, aber ich kann schon wieder gar nicht zuhören.
Ich muss wieder an die Gabel denken. Oh, bestimmt könnte man sie ins Auge stechen! Ein Auge hat doch keine Knochen, oder? Mir wird übel. Bestimmt geht ein Mensch kaputt, mit einer Gabel im Auge. Besonders so ein Kleiner, wie Ryder. Nein, ich will nicht, dass Ryder kaputt geht, auch wenn er manchmal doof ist. Schnell stecke ich mir die Gabel in den Mund und würge den Happen hinunter. Nicht noch einen Bissen, bitte. Mir ist so heiß geworden. Die Gabel ist ganz kalt in meiner Hand, obwohl ich sie schon so lange festhalte. Ich versuche, das Besteck zu betrachten, anstatt wieder zu meinem Bruder zu linsen. Die Zacken sind aus Silber und glänzen, aber die feinen Blumen am Griff sind Gold, wie schön. Wie Blut wohl dazu aussähe? Ich kann nicht anders, als wieder zur Seite zu sehen. Nun erinnern mich seine Augen an Knallerbsen. Knallerbsen sind auch prall und weiß. Man kann einfach nicht anders, als sie vom Busch abzureißen, sie auf den Boden zu werfen und drauf zu treten, dann macht es “plopp”. Dafür sind Knallerbsen doch da, oder? Ob ein Auge wohl auch “plopp" macht, wenn man hinein sticht? Ich starre Ryder förmlich an.
“Guck nicht so!” sagt er, aber ich höre, dass er Angst hat.
Ich höre jemanden meinen Namen sagen, aber ich höre nicht, was sie von mir wollen.
Mir ist so heiß. Meine Hände sind so kalt. Die Gabel! Ist sie noch da? Meine Finger sind ganz weiß geworden, so doll halte ich sie fest. Ich fühle mich, als würde ich rennen. Ganz schnell und immer schneller, dabei sitze ich ganz still. Warum geht das Bild nicht aus meinem Kopf? Ich muss gar nicht mehr zur Seite schauen, um die Gabel in seinem Auge zu sehen. Er schreit wie am Spieß, tastet verzweifelt nach dem Metall und überall ist Blut. Es hört gar nicht mehr auf, aus seinem Auge zu sprudeln.
Fürchte ich mich, weil ich nicht aufhören kann es zu sehen, nochmal und nochmal? Wie ich herumwirble und ihm das Ding mit einem Ruck in seinem Gesicht versenke? Nein, für Angst ist kein Platz mehr. Da ist nur die schreckliche Hitze in meinen Adern, das Kribbeln, das Zittern in meinen Gliedern. Ich will ihm diese verdammte Gabel in den Kopf stoßen! Ungläubig stiere ich in seine Richtung. Blut, Blut in seinem Gesicht. Ich will nicht! Ich will mich nicht bewegen, kein bisschen. Wenn mich bewege, passiert es. Aber ich will hören, wie es platzt! Ich halte fest, ganz fest, bloß keine Regung.
Und dann durchfährt ein Ruck meinen Arm. Aus der Ferne höre ich die Schreie meiner Eltern, aber Ohhhh, sein Brüllen, seine Angst sein Schmerz! Eine Symphonie in meinen Ohren! Bevor er mit dem Gesicht in seinem Essen landet, bin ich aufgesprungen. Das Essen ist sowieso hinüber, alles ist rot, Rot, rot, rot, ROT!
~
Ich habe vergessen, wohin meine Füße mich getragen haben. Wo bin ich? Hinter dem schweren Samtvorhang in meinem Zimmer, bestimmt. Es ist ganz dunkel, im Vorhang. Ich fühle, wie das Blut in meinen Ohren pocht. Ich kann gar nicht an das denken, was gerade passiert ist. Es ist wie ein glühender Dorn, der sich tief in meine Gefühle brennt. Instinktiv wische ich die Hände an meinem Hemd ab. Ich will kein Blut an meinen Fingern!
Ich höre schwere Schritte und bekomme Angst.
“Schatz? Wo bist du?” Der Vorhang wird zurückgezogen. Es ist Vater. Er ist so riesig. Ich versuche, mich hinter meinen Händen zu verstecken.
“Oh mein Schatz. Warum läufst du denn plötzlich weg? Hast du gar keinen Hunger?”
Ich antworte nicht.
Er seufzt warm und sammelt mich vom Boden auf, als sei ich nur ein kleines Paket. “Du bist ja ganz durcheinander, mein Kleiner. Kein Wunder, du hast heute Nacht kaum geschlafen. Du wirst doch nicht etwa krank?” Er fühlt meine Stirn. Ich versuche, ihn nicht anzusehen. “Komm. Iss noch ein wenig mit uns und dann ab in’s Bett mit dir.” sagt er, während er mich zurück in den Speisesaal trägt.
Wie kann er nur so ruhig sein? Hat er denn nicht gesehen, was ich gesehen habe?
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