Weitsicht
Der Blick wanderte hinüber zu der Halle des Raben. Sie bildete sich ein, die beiden Schamanen dort noch zu sehen und in ihren Gedanken hörte sie die Welpe unaufhörlich schwatzen. Feuer in Flaschen, hatte Rasca den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Weib atmete tief durch. Sie war sich sicher, dass der Wildfang nicht wie befohlen zu Sigfasts Gehöft gegangen war. Doch sie wusste, dass das Wolfsrudel offene Ohren und Augen hatte. Der kleine Rotschopf würde schon nicht verloren gehen.
Sie hatte noch etwas zu erledigen.
Eine ganze Weile später saß sie hoch oben auf dem Wolfsfelsen. Die Finger drehten den abgegriffenen Stab vor und zurück, während sie Löcher in die Luft starrte.
Sie hatte ihre Waffe erhoben. Mitten in den heiligen Hallen des Raben. Gegen einen Anhänger des Gefiederten. Monennia brummte kehlig. War es eine respektlose Geste, dass sie sich schützen wollte? Sie kratzte sich unschlüssig die Wange.
Das erste Urteil war vorschnell gefällt. Doch selbst die Rabin hatte einen Augenblick lang überrascht gewirkt. Was, wenn der Erschaffer der Glut tatsächlich ein Schamane der Geister war?
Mit einem resignierenden Stöhnen fiel sie nach hinten um und streckte die Arme zu den Seiten aus. Der Stab klapperte auf dem felsigen Untergrund. Von Kindesbeinen an hatte man sie den Respekt und die Ehrfurcht vor den Geistern und den Schamanen gelehrt. Nie hatte sie auch nur ansatzweise gezweifelt. Oder gar zweifeln müssen. Sicher, da gab es Schamanen, denen man mehr zugetan war. Und es gab solche, denen man lieber nicht noch einmal über den Weg laufen wollte. Schnaubend rieb sie sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Sie wollte nicht, dass die Spuren zu einem Schamanen führten. Sie wollte nicht, dass alles, was sie respektierte und glaubte mit einem Fingerschnippen zu Asche zerfiel.
Fraja war fest davon überzeugt gewesen, dass er es nicht sein konnte. Der Norn, Karur hieß er wohl, war angeblich nicht einmal in der Nähe der Geschehnisse. Außerdem war er nicht Schamane geworden, um sein eigen Fleisch und Blut unter dem Brand sterben zu lassen. Oder um seiner Schülerin etwas anzutun. So waren seine Worte.
Worte. Viele Worte. Sie wollte ihnen Glauben schenken, aber es fiel so verdammt schwer. Die Beweise, oder vielmehr die Spuren führten zu diesem Norn. Doch es passte alles irgendwie nicht zusammen. Es war zu leicht. Zu offensichtlich. Und sollte es tatsächlich dieser Karur gewesen sein, so verhöhnte er die Geister, wenn er sich so selbstsicher durch die Gemeinschaft der Schamanen und die Halle des Raben bewegte.
Abermals drang ein stöhnender Laut aus ihrem Mund. Genervt. Verzweifelt. Unschlüssig. Sie hasste es, wenn sie sich keinen Reim auf etwas machen konnte. Ruckartig setzte Monennia sich auf und pustete die störrische rote Locke aus ihrer Stirn. Kurz stand diese nach oben ab, ehe sie neckend ihren Platz vor der Sicht der Norn wieder einnahm.
Die Jägerin stemmte sich nach oben und kletterte behände den Wolfsfelsen hinab. Es war Zeit. Sie musste jemanden um Rat fragen. Jemanden, der weitsichtiger war als sie im Moment.
So schlug sie den Pfad durch den Wald ein und schon bald sah sie die heimische Hütte vor sich aufragen.
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