Ein Mann steht still und sieht.
Er ist ganz und gar gefangen von dem Anblick, der sich ihm bietet. Ihm ist, als stünde er vor einem Fenster zu einer anderen Welt - Denn was er vor sich erblickt, erscheint ihm völlig surreal.
Zwanzig Jahre sind vergangen. Zwei Jahrzehnte, seit er seinem Gegenüber das letzte Mal in die Augen gesehen hat. Er hat sich verändert, ist älter geworden. Nicht nur das, der Mann realisiert auch, dass er dieses Gesicht vergessen hat. Wüsste er nicht wer der Andere ist, der ihm dort gegenüber steht, hätte er ihn nicht einmal wiedererkannt.
Der Mann braucht Zeit. Eine ganze Weile in der er nichts anderes tut als zu stehen und zu starren. Er weiß genau, wen er dort im Spiegel sieht, aber er kann es nicht fassen.
So steht er vor einem Waschbecken und schweigt. Er hebt die Hand und winkt ihm zu, dem Menschen auf der anderen Seite. Ihre Synchronität hilft ihm zu realisieren, dass er ganz plötzlich, von einem Tag auf den Anderen, sich selbst sehen kann.
Es ist ein bizarres Gefühl. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, einzig und allein aus seinen Augen zu sehen und dass ihm alles, was nicht in seinem Sichtfeld liegt, verborgen bleibt. Sein eigenes Antlitz gehört zu diesen Dingen, die er nicht sehen können will, ebenso wie niemand seine eigenen Innereien betrachten wollen würde.
Es ist ein schreckliches Gefühl. Er fühlt sich als wäre er gestorben, als hätte er seinen Körper verlassen und würde nun auf seine Leiche herabblicken. Es fühlt sich falsch an, dieser unnatürliche Blick, die Illusion des Spiegelbilds die es ihm möglich macht, in seine eigenen Augen zu starren.
Ein Mann steht mit gesenktem Blick vor einem Spiegel. In den letzten Wochen hat er versucht, sich daran zu gewöhnen. Er hat sich bemüht, sich ein wenig mit dieser visuellen Selbstreflexion anzufreunden. Schließlich könnte ihm diese neue Möglichkeit vieles vereinfachen. Er hat es oft versucht und inzwischen fällt es ihm schon viel leichter. Doch als er sich nach kurzem inneren Kampf überwindet aufzusehen, gefriert das Blut in seinen Adern.
Er sieht nicht mehr, was er sehen sollte.
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