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„Toni, du musst kommen.“ Ein Beben schüttelte Helenas leise Stimme. Sie stand blass wie ein Toter in dem Bau, den sie das Gesindehaus nannten, und rang um ihre Haltung. Antonia sah auf, sofort fragend
aufgrund des unwahrscheinlichen Anblicks dieser wackeligen Beine. „Olaf. Er hat ihn umgebracht.“
Einige Zeit später...
Sie standen da am Rand des brackigen Wassers, das beständig glucksend gegen das Ufer schwappte. Zu anderer Jahreszeit wäre die Luft jetzt vom Quaken der Frösche erfüllt und sie selbst von allerlei Mücken und Faltern umschwärmt die sich vom Licht der einzelnen Sturmlampe und der Wärme ihrer Körper würden angezogen fühlen. Aber für beide, Frösche wie Falter war es noch zu früh im Jahr und so war es unnatürlich still hier, die Ausläufer des Sumpfes von fast schon bizarrer Ruhe und Friedfertigkeit erfüllt, sah man vom Tun der beiden hartgesottenen Männer ab, die da im Öllicht stumm ächzend ihrem Werk nachgingen und den Toten ausdruckslos mit allerhand Werkzeugen bearbeiteten. Eigentlich machte man das noch in der Stadt. Und eigentlich wartete man ein paar Tage bis man die einzelnen Teile Stück für Stück in alle vier Himmelsrichtungen davon karrte und in irgendwelchen Löchern verschwinden ließ oder gleich an Schweine verfütterte.
Eigentlich.
Das „Eigentlich“ konnte man sich aber auch getrost in die Haare schmieren, wenn man wie Toni im Dunstkreis einer gewissen Familie groß geworden war, für die gelegentliche Ausraster wenn schon nicht zum guten Ton gehörten, dann zumindest von einer Generation an die Nächste vererbt wurden, genau wie das blonde Haar und die berüchtigte Trinkfestigkeit. Und der Mann, dessen Werk die beiden Kerle in den Fleischerschürzen gerade beseitigten, war der Sohn des Schlimmsten unter ihnen, des Ersten unter Gleichen, wenn es um drastische Ausraster ging.
Und darum war es nötig den Toten noch heute und schneller verschwinden zu lassen als üblich, bevor Fragen aufkamen, und bevor Feinde etwas witterten. So war es dann auch nicht sonderlich verwunderlich, dass es eigentlich nicht Toni war, die sich da am Ufer ermahnte ruhig zu stehen und nicht abzudriften, sondern Antonia, die Abgebrühteste von ihnen.
Ein jeder hat seinen Moment, pflegte ihr aller Vater zu sagen und was er damit meinte war, dass es zu jeder Aufgabe die richtige Person gab. Und zu jeder Person die richtige Aufgabe. Sogar zum Sterben, wie der Hausdiener Olaf jüngst und final hatte erfahren müssen, als eine Wut die er nicht zu verantworten hatte ihr Ventil in seinen Eingeweiden suchte... und fand.
Toni hätte Mitleid empfunden, ganz bestimmt, Ela einen derben Spruch gebracht, Chloé sicherlich geweint und Morena hätten selbst die Götter, alle Sechs, nicht in die Nähe dieses Sumpfes gebracht, nicht mal für das Versprechen auf ewige Jugend und Schönheit. Antonia aber, aus der sprach distanzierte Langeweile als sie die Männer ermahnte die Finger die sie da gerade abtrennten ja bloß aufzubewahren (für die Schweine), einfach um sicher zu gehen, dass es auch geschah, nicht weil die Männer, beide keine Anfänger im Schneiden und Sägen, es nicht eh selber wussten.
„Weißt du“, sagte sie dann zu der Silhouette hinter sich, jetzt da sie eh schon zu sprechen begonnen hatte, und ihre Stimme klang krächzig vom vielen Schweigen und gedämpft von der wollenen Kapuze die ihr Haupt umgab, „weißt du, einmal, da nahm mich Vater auf den Schoß, wie er es stets zu tun pflegte wenn er mir etwas erklären wollte, auch später noch, als ich mich längst zu alt dafür wähnte. Er nahm mich also auf den Schoß, wie alt mag ich gewesen sein? Vielleicht fünf oder sechs und tief erschüttert, ob des Geschreis das derart laut durchs Haus gehallt hatte, dass allerorten Schlafende jäh aus ihren Träumen gerissen wurden und sich fragten wem sich gerade die Unterwelt aufgetan hatte und ob sie vielleicht die nächsten wären und ob des Veilchens das da dick im Gesicht meines Vaters prangte. Wahrscheinlich hätte ich mein Bett gar nicht erst verlassen, hätte ich ihn nicht zur Tür hinein kommen hören. Da saß er also, das halbe Gesicht von Kerzenlicht und Bluterguss gespenstisch verzerrt und lächelte mich an.
'Komm her, mein kleiner Schmetterling', sagte er, reckte mir die Arme entgegen und hob mich, nachdem ich mein Zögern überwunden hatte auf seinen Schoß. Eine ganze Weile saßen wir still, er und ich, bis ich mich endlich getraute zu fragen ob der Onkel böse auf ihn wäre. Du musst wissen, dass der Mann von dem ich dir erzähle nicht wirklich mein Onkel ist, aber damals war ich jung genug um es so zu sehen und so sehen zu dürfen. Pa, Vater schaute mich darauf hin milde an und langsam begann er zu erklären.
'Toni, mein kleiner Liebling', sagte er, 'manchmal sind Männer auf niemand bestimmten böse und trotzdem bekommt es jemand ab. Überbringer schlechter Nachrichten, jene die zur falschen Zeit das Falsche sagen, oder manchmal auch ganz und gar Unbeteiligte. Die Wut muss irgendwo hin, sonst frisst sie sich ins Innere und vergiftet einem das Herz. Dann wird es schwarz und tollwütig und das, das ist schlimmer als alles Andere.'
'Aber warum denn du', fragte ich, die ich entsetzt war Vater so zu sehen, 'warum schlägt Onkel dich?' Denn du musst wissen, dass es kaum einen Mann gab, der 'Onkel' näher stand als mein Vater, und ganz sicher keinen außerhalb seiner Familie. Heute weiß ich, dass damals leicht auch großes Unglück über uns alle hätte hereinbrechen können, wäre irgendwer bloß unbeherrschter gewesen. Über Vater, mich, Onkel, die Familie. Alle.“
Der Gedanke der da aus großer Tiefe an die Oberfläche gespült worden war ließ Antonia einen langen Herzschlag schweigen. Und als er mit all der Konsequenzen die in seinem Schlepptau kamen wieder im trüben Gedankengut zu versinken begann, da wandte sie sich um und ihrem Zuhörer zu und raffte den Mantel als wäre ihr eben in diesem Moment viel kälter geworden. Olafs Schädel starrte ihr von seinem prominenten Platz oben auf dem moosbewachsenen, kleinen Dolmen, der in früherer Zeit einst ein Altar gewesen sein mochte, aus leblosen Augen entgegen, stumm und ausdruckslos in seiner Musterung, und ihr Lächeln, als sie schließlich in ihrer Erzählung fortfuhr war eines dem es nicht an Liebreiz fehlte und auch nicht an Bedauern und das doch im Grunde seines Herzens belehrend bliebt.
„Vater sagte, und ich sollte noch Jahre brauchen seine Worte und ihre Weisheit zur Gänze zu verstehen, denn damals erschütterte mich das Gehörte nur, 'weil er einen geringeren Mann erschlagen hätte, und weil man manche Dinge nicht irgendwem überlässt. Du wirst sehen, schon morgen ist wieder alles gut.' - Ich will nicht lügen, Olaf, es dauerte länger als eine Nacht, bis wieder alles gut war, zwei oder drei Tage waren es schon, in denen sie sich aus dem Wege gingen. Bis heute weiß ich nicht wovon der Streit handelte und ob sie sich je ausgesprochen haben, aber ich glaube, nein, ich bin mir sicher, auf seine Art tat es dem 'Onkel' schon bald leid. Es tat ihnen beiden leid. Und; und das ist gewissermaßen der Punkt, mein Lieber, noch bis heute ist Vater des 'Onkels' engster Mann.“ Antonia oder vielmehr doch Toni, hatte die Hand gehoben um Olaf durch den roten Schopf zu streichen und sein zerzaustes Haar zu richten. Und als sie dann weiter sprach war viel Wärme in ihrer Stimme und Zuneigung im Streicheln ihrer Hände, die dem Schädel eine vornehme Würde verliehen die er im Leben nicht gekannt hatte. „Weißt du, der Mann, der Onkel, das ist Adrians Vater. Adrian trägt eine große Last, glaub mir, ich kenne ihn viel besser als du, und weiß, er hat es eigentlich nicht so gemeint. Ja, wahrscheinlich tut es ihm sogar Leid. Bestimmt sogar. Also, bitte, verzeih ihm das erlittene Ungemach. Und wenn ihr einander dereinst in den Nebeln begegnen solltet, hege keinen Groll. Du warst“, und zufrieden mit ihrem Werk beugte sich die schmale Gestalt dem so ordentlich zurecht gemachten Kopf entgegen um sanfte Lippen, liebevoll auf die kalte Stirn zu drücken, „bloß zur falschen Zeit am falschen Ort, du Armer. Wir gedenken deiner in Liebe. Ich entzünde eine Kerze für dich. Dwaynas Milde mit Dir.“
Es war Toni, deren rührseliges Lächeln Olaf verabschiedete, aber Antonias Stimme die erklang, als sie sich schon einen Moment später abwandte und die Männer schalt.
„Jungs, macht keinen Hackbraten daraus. Die Skelk erwarten keine Gourmetküche, oder wollt ihr ihn vielleicht noch salzen? Bald geht die Sonne auf und bis dahin will ich hier weg sein. - Und vergesst Kopf und Finger nicht. Ihr wisst wo wir damit noch hin müssen.“
Das Mitgefühl war da längst aus ihr gewichen.
Es war eben wie Vater zu sagen pflegte.
Jede Person hat ihre Momente im Leben.
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