Schweißgebadet fuhr er aus seiner Schlafstatt hoch und rang nach Atem. Seine Hände krallten sich panisch in das Fell auf dem er lag, während er sich umsah, zu realisieren versuchte, wo er sich befand. Sein Blick wanderte über die Betten des Schlafsaals im Gemeindehaus des Klans, wo so mancher Norn noch friedlich vor sich hin schnarchte, und langsam wich die Angst einem Gefühl der Erleichterung. Ein Albtraum hatte ihn aus seinem Schlummer gerissen, angestrengt versuchte er sich zu erinnern, doch der Traum war so zerrüttet und schnell verschwunden, wie er vor seinem geistigen Auge erschienen war. Jedes Jahr, zur gleichen Zeit, kehrten die Gedanken wieder. Und jedes Jahr, zur gleichen Zeit, bescherten sie ihm Albträume, die ihm den Schlaf raubten.
Verschlafen blickte er aus dem Fenster, hinter deren Gläsern die Sonne langsam über die Berge empor stieg und die ersten Lichtstrahlen auf Hoelbrak warf. Viel zu früh um aufzustehen, wenn es nach ihm ging, aber schlafen konnte er nun ohnehin nicht mehr. Also rieb er sich murrend den restlichen Schlaf aus den Augen, bevor er sich über den Wassereimer neben seinem Bett beugte und sich etwas davon ins Gesicht spritze um endgültig wach zu werden. Dann schlüpfte er in die Klamotten die er vor dem Schlafen gehen einfach neben sein Bett geworfen hatte, ein einfaches Hemd, sowie ein Ledermantel und eine schmutzige Lederhose, dazu ein paar ausgeleierte Arbeitsstiefel. Im Anschluss trottete er müde in die Teeküche, nur um einen Rest lauwarmen Kaffees in einer Kanne zu finden, den er sich in einen Becher goss. Immerhin hatte einer der Frühaufsteher etwas für die Schlaflosen übrig gelassen. Oder ein anderer Schlafloser. Auf dem Weg zur Tür, um seinen täglichen Spaziergang nach dem Aufstehen zu machen, warf er einen letzten Blick in den Schlafsaal zurück. Da lagen sie alle, schliefen ruhig und friedlich. Doch er wusste, spätestens wenn es wieder so weit war, konnte keiner von Ihnen noch gut schlafen, egal für wie furchtlos sie sich auch hielten. “Scheisse…. ich wette, wenn die Nebel wieder über’s Land ziehen, kann nich’mal Renvar einfach so einschlaf’n.”, hallten die Worte seines Vaters ihm durch den Kopf und unweigerlich, musste sich Alrik einen ängstlichen Renvar vorstellen, der zitterte wie Espenlaub und nur bei voller Raumbeleuchtung überhaupt ein Auge zumachen konnte. Er schnaubte einmal amüsiert über diese Vorstellung in seinem müden Kopf, ehe er die Tür aufdrückte und in die kalte Morgenluft hinaus trat. Draußen angekommen hielt er sich links, um auf das Dach hinauf zu gehen und dem Sonnenaufgang von dort aus zu zusehen. Es war ein guter Ort, eine gute Zeit, um sich zu entspannen und die Gedanken zu ordnen. Er brauchte das einfach, speziell zu dieser Zeit des Jahres,so trübte der verwirrende Einfluss der Nebel seine Gedanken manchmal schon, noch bevor die Nebel überhaupt kamen.
Er wusste noch ganz genau, wie er sich als Kind immer im Haus versteckt hatte, damit die Nebel ihn nicht finden würden, selbst wenn das Licht der Laternen zu flackern begann. Und als seine Schwester dann auch alt genug war um Angst vor den Nebeln zu haben, zeigte er ihr wo sie sich am besten verstecken konnte, während er mit seinem Übungsschwert Wache hielt. Den großen und tapferen Bruder mimen, obwohl er eigentlich die Hosen voll hatte.
Trotzdem hat er sich immer, wenn alle im Heimkehrer zusammen kamen, mit den anderen Kindern im Viertel, um ihr ganz eigenes Feuer zusammengesetzt, während die Erwachsenen über ihren Erwachsenenkram redeten. Dann haben sie sich immer gegenseitig die neuesten Geistergeschichten erzählt. Eine war immer düsterer und blutiger als die Andere, am nächsten Tag wurde sich dann immer getroffen und geschaut ob einer ins Bett gemacht hat. Die “Verlierer” dieses Wettstreits mussten dem Rest der Gruppe dann Süßigkeiten abtreten. Es war jedes Jahr jemand Anderes, und Alrik konnte es heute keinem der Kinder mehr übel nehmen, wenn er sich an die Geschichten erinnerte. Die Vorstellung dass, beispielsweise, der Geist eines alten Mannes mit einer Hakenhand, einem das Gehirn aus der Nase zog, bescherte sicher keinem der Kinder einen ruhigen Schlaf.
Trotzdem musste er schmunzeln. Insgeheim hatten sie alle eine Heidenangst vor den Nebeln, sind immer gemeinschaftlich zusammen gezuckt, wenn ein Luftzug die Laternen schaukeln lies und Eine ausging. Natürlich hätte das aber nie einer von Ihnen zugegeben, schließlich waren sie tapfere junge Männer!
Aber auch andere Leute im Viertel hatten ihre eigenen kleinen Rituale, die sie jedes Jahr durchzogen.
Jurgen, der ansässige Bierbrauer im Viertel, schenkte der heiligen Halle des Raben jedes Jahr vier Fässer seines besten Biers. Je ein Fass für sich selbst, seine Frau, und seine beiden Kinder. Er war der Meinung Vater Rabe würde sehen wie streng er sich an die Bräuche hielt, indem er seinen Alkohol nicht nur nicht trank, sondern ihn auch an seine Diener abgab, so dass der Rabe in jener Nacht besonders aufmerksam über seine Familie wachen möge.
Der alte Bolvar, hat immer sein ganzes Haus in eine einzige riesige Laterne verwandelt. Aus jedem Fenster des Hauses drang die ganze Nacht hindurch, fast schon schmerzend grelles Licht nach draußen, weil er in jeder Ecke seines Hauses eine Kerze am brennen hatte. Auf dem Weg zu seinem Haus standen Dutzende Laternen, damit es auch keinen einzigen Schatten mehr auf dem Schnee gab, wenn er das Haus doch mal verlassen musste, und seine ganze Bude stank nach Rauch, wegen des fast schon übertriebenen Feuers dass er immer im Kamin schürte. Manche erzählten sich, dass wenn die Nacht der Nebel überstanden war, er das ganze kommende Jahr lang, bereits Vorbereitungen für die nächste Nacht der Nebel traf.
Aber trotz der fürchterlichen Bedeutung dieser Nacht, waren es großteils schöne Erinnerungen, denn wer sich an die Bräuche und Regeln dieser Nacht hielt, der hatte kein Unheil zu fürchten.
Viele Jahre hatten sie die Nacht der Nebel unbeschadet überstanden, und je älter er wurde, desto grauenhafter wurden die Geschichten die er mit anhören durfte. Doch keine dieser schrecklichen Schauergeschichten, über Erscheinungen der Verstorbenen, rachsüchtige Geister, oder andere Schrecken die einem den Verstand rauben, konnte ihm noch Angst einjagen, als er im Alter von vierzehn Jahren sein erstes scharfes Schwert erhielt. Auf der Jagd nach Ruhm und Ehre, wollte er in jenem Jahr auch den Nebeln trotzen, seinen Vater stolz machen, indem er vielleicht eine Nebelgestalt tötete und dann als Alrik, “ Der Bezwinger der Nebel”, in die Klansgeschichte eingehen.
So schlich er sich in jener Nacht, vor dreiundzwanzig Jahren, aus dem Haus, auf der Suche nach Gefahr und Abenteuer. Abseits der von den Laternen ausgeleuchteten Wege schlich er an den Rand des Viertels, von dort aus in den Wald. Er wollte weg von den schützenden Lichtern, der Gefahr ins Auge sehen. Flink, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, bewegte er sich über den unebenen Waldboden, presste sich immer wieder an Bäume, um aus der Deckung zu spähen. Doch dann plötzlich, als er sich wieder umdrehte, stand da vor ihm ein Mann.
Eine geisterhafte Gestalt war wenige Meter vor ihm erschienen, in alte Rüstung gewandet, mit zwei Schwertern am Gürtel. Das Eine erkannte er sofort… das Familienschwert der Mikkonens, das Andere war ihm fremd. Er hob sein Schwert an, bereit anzugreifen, da drehte sich die Gestalt langsam zu ihm um, gab dabei langgezogene, schmerzerfüllte Laute von sich, die einem das Blut in den Adern gefroren.
Die Panik überkam den jungen Alrik, er wollte losschreien und Fersengeld geben, doch die Angst lähmte ihn, schnürte ihm die Kehle zu. Dann starrte er in das verzerrte und gequälte Gesicht seines Großvaters, Blut lief aus seinen Augen, tropfte von seinem Kinn hinunter in den Schnee. Langsam, mit schwerfälligen, klappernden Schritten kam er auf Alrik zu, starrte ihm aus blutigen Augen direkt in die Seele.
Unfähig sich zu bewegen stand der Junge da, starrte in die Fratze die er als seinen Untergang deutete, spürte wie er ihm durch seine bloße Anwesenheit das Leben aus dem Körper saugte. Immer näher kam der Geist seines Ahnen, streckte den bleichen Arm nach seinem Enkel aus, bereit ihn in die Nebel mitzunehmen. Fast berührte er ihn, Alrik blieb vor Schreck das Herz einen Moment stehen, dann packte ihn etwas an der Schulter und riss ihn zurück. In diesem Moment verlor er das Bewusstsein.
Als er wieder aufwachte, lag er zuhause in seinem Bett, der nächste Tag war schon angebrochen, und seine Mutter und sein Vater saßen mit strenger Mine neben seiner Schlafstatt. Beschämt senkte er den Blick auf seine Decke, ehe sein Vater das Wort erhob.
“Ich habe dich eigentlich für klüger gehalten, mein Sohn.”
“Aber ich wollte doch nu…”, wollte Alrik schon trotzig erwiedern, ehe er von einem donnernden “SCHWEIG!”, unterbrochen wurde.
“Es ist ganz egal was du wolltest.”, führte Tristan dann fort. “Du hättest da draußen verloren gehen können!”
Schweigen erfüllte den Raum, während Alrik trotzig, aber dennoch ängstlich, auf seine Decke starrte. “Ich habe Opa gesehen…”, murmelte er dann erklärend.
“Nein.”. Diesmal war es Esther die sprach. “Da war niemand, als wird dich gefunden haben. Du hast in den Nebel gestarrt und gezittert. Aber trotzdem! Was wenn du wirklich Etwas aus den Nebeln gesehen hättest? Dir hätte alles Mögliche passieren können!”. Eine Träne rann ihre Wange hinab, vielleicht aus Wut über seinen Ungehorsam, vielleicht aus Erleichterung, weil ihm nichts Ernstes geschehen war. Aber Alrik wusste es besser. Er hatte es gesehen. Er war sich ganz sicher!
Noch bis zum Mannesalter sollte man ihm diesen Fehler vorhalten, doch brauchte er ihre Standpauken gar nicht. Denn das schmerzverzerrte Gesicht seines Großvaters, dass ihn heute noch manchmal in seinen Träumen heimsuchte, sollte für immer dafür sorgen, dass er nie wieder in einer Nacht der Nebel, alleine und ohne Licht, vor eine Haustür treten würde.