Liebe Lynn,
wie ich Dir vorhin im privateren Rahmen schon mitteilte, hast Du mich wirklich überrascht mit Deinem spontanen Einstieg in die kreative Branche. Gleichzeitig bin ich von Herzen froh darüber, dass Du sofort den Mut gefunden hast, Deine Kreativität mit der Öffentlichkeit und uns im Speziellen zu teilen. Vielen Dank dafür.
Zum Bild selbst:
Was mir als Zeichnerin, die schon länger auf professioneller Ebene in diesem Feld tätig ist, als Erstes ins Auge sticht, ist Deine Leichtigkeit. Ich bin mir nicht sicher, wie Du dieses spezifische 'look & feel' erzielst und am Liebsten wäre es mir, Dir bei Gelegenheit persönlich über die Schulter schauen zu dürfen, um zu ergründen, wie Du deine Hand über die Canvas lenkst. Gerade die Tatsache, dass Du auf relativ rudimentäre Software wie 'MS Paint' zurückgreifst, um all den beizeiten doch recht überflüssigen Ballast eines Programmes wie 'Adobe Photoshop' abzustreifen, ist etwas, auf das alteingesessene Künstler in der Form vermutlich gar nicht kommen würden. Innovation ist etwas, das mit frischem, unbedarften Blick gesehen werden will. Auf äußerst ungekünstelte Art schüttelst Du all den Staub der Lehrbücher und kunsthistorischen Regeln ab, die uns die alten Meister mitgegeben haben, um Deine Botschaft auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir alle sollten uns einmal fragen, ob wir uns nicht viel zu lange schon von überholten Konzepten wie Komposition, Shading, Storytelling, Perspektive und Logik beeinflusst wurden. Mit Deiner Erlaubnis werde ich in meinen Artist-Verbänden und -Communities von Deinem neuen Ansatz erzählen, damit das Wissen nicht ungeteilt bleibt.
Damit einhergehend bitte ich Dich inständig, meine anfängliche Irritation bezüglich der Identität der 'Frau in der Blume' zu entschuldigen. Ich war schlicht und ergreifend nicht open-minded genug, um Deine Arbeit zu verstehen. Nicht nur, dass es sich hierbei ganz offensichtlich um eine herunter gebrochene Interpretation deines langjährigen RP-Characters Lynn handelt - nein, diese Antwort geht nicht weit genug. Vielmehr sollten wir die Antwort in uns selbst suchen. Deine gewählte Bildsprache des Gesichtes in der Blume rührt tief an die ursprünglichen Bedürfnisse, sich selbst mit Ästhetik zu rahmen, insbesondere beim weiblichen Geschlecht. Welches Mädchen hat nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem unschuldigen Leben vor dem Spiegel gestanden und sich gewünscht, so beständig und vergänglich, so unantastbar und zerbrechlich, so zart und so verwurzelt wie eine Blume zu sein? An einem friedlichen Sommertag unter der wohltuenden Sonne zu stehen, um sich bewundern zu lassen, bis schließlich jemand die Courage entwickelt, zu pflücken, was nicht gepflückt werden darf?
Doch halt - was geschieht? Die Biene unterbricht mit ihrem explizit visualisiertem Summen die Szenerie. Sie erweckt einerseits ein subtiles Unwohlsein, die niemals ganz besiegbare Angst davor, gestochen zu werden. Sie hat die Macht inne, Schmerzen zu schenken, nur, um selbst daran zu sterben. Auf der anderen Seite ist sie gleichzeitig ein Bote des Lebens selbst, sorgt sie doch dafür, dass den Wiesen dieser Welt auch in Zukunft die Ehre zuteil wird, als Nährboden für die Boten der Schönheit, den Blumen, zu dienen.
Die Sonne wacht, wie sie es immer tat und immer tun wird, über Bienen und Blumen, die gleichzusetzen sind mit einem symbolischen, verkleinerten Abbild unserer Gesellschaft. Was tut die Menschheit schon anderes, als sich in ihrem eigenen Glanz zu sonnen, sich zu vermehren und sich auch viel zu oft Schmerzen zuzufügen und damit den eigenen Tod in Kauf zu nehmen? Die Sonne verurteilt nicht, die Sonne unterteilt nicht. Als Zeichen der niemals endenden Großzügigkeit badet sie alles in ihrem Licht, was sich nicht davor fürchtet und sich in den Schatten versteckt.
Niemals wäre ich im Stande, noch tiefer in das Labyrinth einzutauchen, dessen Ziegelsteine Deine Gedanken und dessen Mörtel Deine Absichten sind. Ich würde mich aller Wahrscheinlichkeit nach in der komplexen Simplifizierung Deiner visualisierten Welt, die doch allzu vorschnell schlicht als 'heile' Welt bezeichnet werden will, verlaufen und nie wieder den Weg zurück finden. Was als herkömmlicher Spaziergang auf einer perfekt abgeflachten, achatgrünen Sommerwiese beginnen mag, würde zu einer Suche nach einer niemals existent gewesenen Fata Morgana vor dem unermesslich weiten, wolkenlosen Himmel werden. Mir bleibt nichts anderes, als Dir zu gratulieren und abermals zu danken. Du hast dir den tiefen Respekt von uns allen verdient, in dem Du uns gezeigt hast, was wirklich wichtig ist.