Kindheit
"Das traust du dich niemals, Lena Riesenkind!" Henning war zwar zwei
Jahre älter als sie, nämlich schon sieben, doch reichte er dem
blondhaarigen Mädchen gerade mal bis zur Nasenspitze.
"Ich trau mich wohl und nenn mich nicht so." Erwiderte das Mädchen, während es neugierig zu der Höhle blickte.
"Riesenkind! Riesenkind! Lena das Riesenkind traut sich nicht!"
Sie hasste diesen Beinamen, den die Kinder ihr gegeben hatten. Sie fand
sich nicht riesenhaft und doch kränkte es sie sehr, so genannt zu
werden. Eigentlich hätte sie darüber stehen müssen. Doch konnte sie es
weder leiden beschimpft, noch feige genannt zu werden und ehe sie, oder
die anderen Kinder es sich versahen, hatte sie ihre kleine Faust geballt
und mitten in das Gesicht von Henning plaziert.
"Aua! Du verdammte Hexe! Das sag ich meiner Mama!", schrie der Junge aufheulend, während er sich die Nase hielt.
Doch Lena hörte ihm nicht zu, sondern ging geradewegs zur Bärenhöhle, welche die Kinder heute Morgen entdeckt hatten.
Sie wusste nicht was dabei sein sollte, dort einen Blick hineinzuwerfen.
"Lena! Nein! Komm zurück, der Henning hat doch nur Spaß gemacht!"
"Schau was du angerichtet hast, du Idiot, du kennst sie doch! Was ist wenn da ein Bär drin ist?"
Henning sah Lena nach und schmeckte das Eisen in seinem Mund. Er wollte
nicht Schuld sein, wenn sie starb, aber der Schmerz und vor allem sein
verletzter Stolz, brodelten in dem Augenblick tief in ihm.
Er bewunderte den Mut von Lena und gerade deswegen ärgerte er sie immer.
Er war es sogar gewesen, der ihr den verhassten Beinamen gegeben hatte.
Aber dass sie ihn gerade vor aller Augen niedergestreckt hatte, nein,
das konnte er ihr jetzt nicht verzeihen. Er zuckte mit den Schultern,
und obwohl er als Ältester die Pflicht gehabt hätte sie zurückzuholen,
ging er einfach wieder zurück zum Dorf.
Jugend
"Aber Lena, müssen wir denn wirklich diesen Weg nehmen?", nervös und
auch ängstlich schob sich das Mädchen, das gut zwei Köpfe kleiner war,
als die blondhaarige, näher an diese heran. Furchtsam huschte der Blick
durch das Unterholz und sie konnte nicht umhin nach Lena's Hand zu
greifen.
"Du hast doch nicht etwa Angst, Marie?", klang es amüsiert und eher
aufgeregt, als ängstlich. "Das ist doch nur ein Wald. Ein bisschen Holz
und modrige Äste." Lena begriff das Gefühl der Angst einfach nicht und
Schritt weiter großherzig aus.
"Aber Lena... wir hätten doch auch den anderen Weg nehmen können...", setzte die andere wieder an.
"Und wären eine ganze unnötige Stunde länger unterwegs gewesen." Sie
schüttelte den Kopf und zeitgleich die Hand von Marie ab. Sie sollte
sich besser nicht so anstellen und lieber den Spaziergang genießen.
Obwohl sie gerne weiter protestiert hätte, biss Marie sich auf die
Unterlippe und schwieg. Was brachte es, schließlich waren sie ja schon
fast durch. Wenn nur kein Geist auftauchen würde, oder gar eine andere
Bestie. Sie schauderte und schrie, angespannt wie sie war, erschrocken
auf, als ein lautes Knacken im Unterholz zu vernehmen war.
"Lena! Lena! Da ist etwas!"
Lena blieb stehen und spähte neugierig in die Richtung, aus der das
Geräusch gekommen war. "Wahrscheinlich nur ein morscher Ast, der
gebrochen ist.", erwiderte sie fast schon enttäuscht ehe ein lautes
Heulen die stille des Waldes zerschnitt.
Marie hielt nicht mehr an sich, raffte ihre Röcke und rannte los.
Nur kurz blickte Lena ihr verwundert nach, ehe sie sich ins Unterholz aufmachte.
Erwachsenenalter
Es war ein goldener Septembermorgen, als eine Gruppe von Abenteurern das Dorf erreichte, in dem Lena Riesenkind lebte.
Zwei Tage verweilten sie dort, und am dritten Tag, als sie wieder
fortzogen, war Lena ihnen gefolgt. Ein neues Leben begann und sie nahm
sich fest vor zu lernen, was Angst bedeutet.