Vom Wolf zum Streuner

In den Zittergipfeln erwartete man ohnehin keine Temperaturen, die zu Strandmode und kühlen Getränken passten, doch die klirrende Kälte dieser Nacht kroch sogar dem alten, weißhaarigen Norn in die Knochen. Nicht, dass es ihn gerade störte.
Die Feuchte der warmen Luft aus seinen Lungen hatte sich im Bart zu glitzernden Eiskristallen geformt, mit jedem Atemzug wuchsen sie oder bekamen Gesellschaft neuer Anhängsel, die sich im weißen Gesichtshaar festhielten wie Kletten.
So kalt wie es war, so klar präsentierte sich der Himmel. Der Schnee war schon zuvor gefallen, frisch und locker wie Pulver lag er da. Die Sterne blickten zahlreich hinab auf den alten Hünen, dessen Weg eine deutliche Spur in der weißen Decke hinterließ, jeder Schritt pflügte sich schwer aber kraftvoll vorwärts. Die mit Fellen verkleidete Rüstung nahm hier und da auch etwas des gefrorenen Niederschlags mit, wie ein Staubwedel.
Doch auch das störte den Alten nicht. So wenig wie das Gewicht des Schwertes auf seinem Rücken. Das Heft mit Fell verziert, ein von Leder umwickelter Griff und eine in die Jahre gekommene, aber sichtlich gepflegte Klinge, mit Runen der Schamanen verziert, lag sie da, wackelte bei jedem Schritt etwas hin und her, der Halterung geschuldet.
Eisblaue, gütige, aber von Zeichen des Alters umrahmte Augen erblickten schon das Ziel - zugeschneit war es, nur wer davon wusste konnte erklären, dass es die Überreste einer kleinen Jagdhütte waren. Klein für ihn, jedesmal musste er sich ducken wenn er eintrat. Der Fluch der Großen, der alte Feind.. Türrahmen. Wie oft hatte er sich in einem unachtsamen Moment den Kopf gestoßen, als er freudig hineineilen wollte, um sie zu überraschen, sie in die Arme zu nehmen. Ihr helles Lachen drang an seine Ohren, für einen kurzen Moment blickte er hoffnungsvoll neben sich - ehe er sich des grausamen Streiches seines Geistes bewusst wurde. Doch er war nicht wütend darüber.. jede Erinnerung, jeder Traum, jede Einbildung die sie betraf, ließ das alte Wolfsherz kraftvoll weiterschlagen.
Früher hätte er geklagt.. hätte den Mond und die Geister beschuldigt und im nächsten Moment befleht, sie mögen sie ihm wiederbringen, sie, die mit ihm eine Geschichte von Bärin und Wolf geschrieben hatte.. eine ganz eigene Legende hatten sie verfasst, gekämpft, gelacht, gefeiert und getrauert.
Lächelnd und mit geschlossenen Augen stand er da, als er sich erinnerte, lebhaft, als wäre es gestern gewesen.
Eiswürmer hatten sie gejagt. Svanir zurückgeschlagen. Sie zeigte ihm einige Kniffe der Jagd, erklärte ihm verschiedene Kräuter, zum Essen wie zum Heilen, während er ihr zeigte, wie man die Beute kochte, zubereitete und dazu einen ordentlichen Schnaps für die kalten Nächte brannte.
Die Leidenschaft die diese Bilder in ihm entfachten, ließen die Runen auf dem Schwert bläulich aufglimmen. Als sie noch an seiner Seite stand, hatte ein Blick zu ihr gereicht, um seine Stimme so laut durch die Gipfel hallen zu lassen, dass auch das hasenhafteste Herz von dem Ruf und dem Ansporn, den er mit sich brachte, erfüllt wurde. Rücken an Rücken, sein Schwert vom bläulichen Feuer umhüllt, genährt aus seiner Entschlossenheit. Für sie lohnte sich das Kämpfen. Sich in den Weg einer Klinge zu stellen, in die Flugbahn eines Pfeiles.. sie sollten singen von der Bärin und dem Wolf, die sich allem stellen konnten.
Die alten Lider hoben sich, ehe er den Griff der Waffe umfasste. Sofort krochen die blauen Flammen aus den Runen und hüllten die Klinge ein, ohne ihn oder das Fell der Rüstung zu verbrennen. Gerechter Zorn flackerte auf in seinem Herzen, als er sich erinnerte, wie sie - Nein. Hier war kein Platz dafür. Er war nicht gekommen, um Rachegedanken an diesem Ort zu lassen.
Er hatte sie gerächt. Auch wenn sie dies nie gebilligt hätte. Auch wenn es ihm nur mehr Schmerz gebracht hatte, wovor er mehrfach gewarnt wurde.
Doch heute war er aus einem anderen Grund hier. Lange war er umhergereist, hatte viel gesehen, viele getroffen. Geholfen, gekämpft, gelacht, erzählt, gekocht. Aber nichts hatte ihn erfüllt. Sein Herz schlug aus Gewohnheit, nicht aus Leidenschaft, jeder Atemzug war nur Notwendigkeit.
Ein einziger, kraftvoller Stoß rammte das Schwert tief in den eisigen, schneebedeckten Boden vor den Überbleibseln der Hütte. Die Flammen stoben dabei auf, doch selbst der Schnee blieb davon unberührt.
Lange hatte er darüber nachgedacht. Nun legte er alles nieder. Hier, bei ihr. Bis es ihm vergönnt war, sie wiederzusehen, wo auch immer das sein würde.
Mit dem Schwert hinterließ er alles. Er würde nicht mehr kämpfen. Seine Legende hatte zusammen mit der ihren ein Ende gefunden. Er war nur mehr ein rastloser Streuner, der auf ein Wiedersehen wartete, da ihm der Weg zu seinem Begehren versperrt war.


Während der schneidende Wind aufbrauste und Pulverschnee durch die Luft wirbelte, folgte der Alte seiner Spur zurück. Wohin? Wenn er das nur wüsste.

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  • Mittagspausen, Kaffee und.. meine erste Geschichte hier. Offen für Feedback/konstruktive Kritik und/oder Korrekturen.