Bis auf das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter war es ruhig im Wald, als Alrik vorsichtig zwischen den Bäumen herum pirschte. Auf der Jagd nach Beute war er, damit es wieder was zu Essen, außerdem Felle und Leder, Krallen und Knochen gab.
Mit dem Bogen im Anschlag schlich er herum, die Sinne stets geschärft, um Spuren zu sehen, knackende Äste zu hören, oder eventuell auch Fährten zu riechen. Fährten die ihn seinem Ziel näher brachten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er früher Tag für Tag mit seinem Vater auf die Jagd gegangen war. All die Lektionen und Übungen, Tarnungen, stundenlanges Fährtenlesen, schleichen, klettern, spähen....
Es brauchte eben mehr als einen Bogen und ein wenig Können als Schütze, um Jäger zu werden. Natürlich könnte man sich einfach irgendwo hinsetzen, sich ein paar Stunden lang nicht bewegen und hoffen dass einem etwas Essbares in die Schusslinie lief. Aber sich darauf zu verlassen, dass das Glück und die Geister einem hold sind, ist keine sehr zuverlässige Methode zu jagen.
Langsam schlich er weiter, ganz gemäß der obersten Tugend eines jeden Jägers: Geduld.
Geduld war am wichtigsten. Wer ungeduldig wurde, ging zu schnell, übersah wichtige Hinweise, trat versehentlich auf einen Ast und zog so auf die Aufmerksamkeit seiner Beute auf sich. “Am einfachsten erlegst du ein Tier, wenn es gar nicht weiß dass du existierst.”, hatte sein Vater immer gesagt. Und es stimmte. Ein Hirsch der in Ruhe sein Wasser trank, war ein leichteres Ziel, als ein Hirsch der hektisch suchend mit dem Kopf herum ruckte. Oder ein Hirsch der sich bereits auf der Flucht befand. Ein völlig entspannter Hirsch jedoch, der sich an seiner Wasser- oder Futterstelle in Sicherheit wog, sah den Pfeil nicht, der im Gebüsch darauf wartete abgefeuert zu werden.
“Der geduldige Jäger, fängt die Beute.”, sagte Tristan ihm immer, um ihn daran zu erinnern. Ein Spruch der heute noch auf jeder Jagd durch Alriks Kopf kreiste, während er sich seinen Weg durch die Bäume suchte.
Seine Wissen um die Jagd, verdankte er nur seinem Vater. Zwar waren die Mikkonens immer Krieger gewesen, doch nach der Flucht aus dem Norden und der Geburt seiner Söhne, hatte Silas Mikkonen entschieden, dass man diesem Namen vielleicht auch etwas Frieden gönnen konnte. So erlernte er die Kunst der Jagd und gab sie an seine Söhne weiter. Diese waren zwar mehr von der kriegerischen Seite der Mikkonens angetan, doch spätestens als ein Sohn Svanirs mit seinem Hammer Tristans Knie zerschlug, ging auch dieser dem Beruf des Jägers nach. Und er gab sein Wissen an Alrik weiter. So gütig er als Vater doch war, als Mentor war er umso gnadenloser. Bereits als junger Welpe, bekam Alrik seinen ersten Kurzbogen in die Hand gedrückt, monatelanges Üben am Schiessstand, der Umstieg auf den Langbogen, wieder viele Monate üben… wenn Alrik im Haushalt nichts zu tun hatte, oder nicht gerade lesen und schreiben lernte, dann schickte Tristan ihn auf den Übungsplatz, um seine Fähigkeiten mit dem Bogen weiter zu verbessern. Wenn er seine Sache gut machte, durfte er los, um mit den anderen Kindern zu spielen. So war Alrik mit zehn Jahren bereits ein passabler Schütze und ab da nahm Tristan ihn mit in den Wald, wo seine richtige Schulung begann. Fährtenlesen, Tierkunde, Waldkunde, schiessen, fangen, häuten.... und Alrik gefiel es. Hier konnte er sich austoben, herumlaufen, der Wolf sein der in seinem Inneren heulte. Es fühlte sich an, als wäre er von Geburt an zum Jäger auserkoren worden. Mit fünfzehn Jahren war er bereits weit genug um alleine jagen können, auch wenn er nach wie vor mit seinem Vater im Duo auf die Pirsch ging. Einfach nur um ihn zu bestaunen. Trotz des hitzköpfigen und leidenschaftlichen Natur der Familie Mikkonen, war Tristan auf der Jagd genau die Art von Geduld, die er Alrik immer vorgebetet hatte.
Doch auch Geduld brachte nichts, ohne die notwendige Fachkenntnis, über die örtliche Tierwelt. Viele Norn lachten, wenn sie den Spruch hörten, “Denke wie deine Beute. Sei wie deine Beute.”, weil sie sich dann einen Norn vorstellten der durch den Wald sprang wie ein Irrer. Dabei entsprach keine Jägerweisheit mehr der Wahrheit, als diese. Ein guter Jäger kennt sein Territorium und dessen Bewohner. Er weiß wo er sie findet, wo er suchen muss, wie eine Fährte aussieht. Während Lindwürmer sich ihre Unterschlüpfe aus Matsch und Zweigen am Flussbett bauten, lebten Hirsche tief im Wald, waren meiste in Gruppen unterwegs, zur Paarungszeit auch in regelrechten Rudeln.
Die Skelks waren gerne am Wasser und liebten Vogeleier, also bauten sie ihre Nester zwischen dem Fluss, und dem Rabenschrein, so gingen sie den Lindwürmern am Fluss aus dem Weg, und hatten keinen weiten Weg zu den Nestern am Rabenschrein. Im Prinzip war der Wald für Alrik also sowas wie ein Dorf, wo jedes Tier an seinem speziellen Flecken lebte.
Anhand dieses Wissens konnte er Gebiete spezifisch nach Spuren absuchen, je nachdem welches Tier er brauchte.
Gerade befand er sich im nördlichen Teil des Waldes, im Dickicht, wo die Hirsche lebten. Hier gab es keine Lindwürmer, oder aggressive Skelks die ihnen das Leben schwer machten. Sie konnten in Frieden ihr Territorium markieren und dort leben, bis es an der Zeit war weiter zu ziehen. Speziell die Territoriumsmarkierungen waren für Alrik besonders interessant. Hirsche die mit ihrem Geweih die Rinde vom Baum schälten, ihre Duftstoffe daran verteilten, oder auch einfach nur der Urin. Speziell Kot und Urin gaben viel Aufschluss darüber, ob man der Beute nahe war. Wenn das Zeug noch frisch roch oder sogar warm war, wusste man dass man sein Ziel beinahe erreicht hatte. Keine sehr appetitliche Angelegenheit, aber wer glaubte, dass er nach der Jagd wieder sauber aus dem Wald zurückkehrte, der lebte aus Alriks Sicht sowieso in einer Scheinwelt. Er selbst hatte seinen Jagdmantel mit Zweigen, Blättern und Erde ausstaffiert. So wurde er zu einem Baum, einem Strauch. Er war Erde, Schmutz und Blattwerk. Eins mit dem Wald. Sogar seinen Geruch überdeckte er, indem er seine Ärmel an einem “markierten” Baum rieb. Er dachte mittlerweile nicht einmal mehr darüber nach, das gehörte zur Standardprozedur, Jagdvorbereitungen. Die Meisten hätten das vermutlich wahnsinnig eklig gefunden und davor zurückgescheut, aber die Meisten waren auch nicht die besten Jäger im Viertel. Das war zumindest Alriks Meinung zu diesem Thema, auch wenn er selten darüber berichtete, oder damit prahlte. Auch seine Pfeile waren mit matter, brauner Farbe eingestrichen, damit der Stahl im Licht nicht aufblitzte.
Nur durch diese Vorbereitungen konnte er sich absolut unbemerkt im Wald fortbewegen.
Es dauerte gar nicht lange, da hatte er auch schon die erste Spur gefunden. Hufabdrücke eines Hirschs, die Erde war noch locker, das bedeutete das Tier war vor gar nicht all zu langer Zeit hier gewesen. Die Abstände zwischen den einzelnen Abdrücken verrieten ihm, ob das Tier geflüchtet, oder einfach nur den Weg entlang gegangen war. Dieser Hirsch hatte Letzteres getan, die Hufabdrücke lagen nicht all zu weit voneinander entfernt. Außerdem wären die Abdrücke der hinteren Hufe tiefer gewesen, hätte das Tier es eilig gehabt, denn Hirsche bewegen sich auf der Flucht eher springend, indem sie sich mit den Hinterbeinen vom Boden nach vorne abstoßen. Die Spuren führten von Osten, dort befand sich ein kleiner Bach, nach Westen in den Wald. Der Hirsch war wohl alleine losgezogen um etwas zu trinken und hatte sich dann auf den Weg zurück zu seiner Gruppe gemacht.
Er konnte sicher fünf Dutzend verschiedene Abdrücke voneinander unterscheiden, nicht nur tierische, sondern auch humanoide. Es war keine große Kunst, aber wichtig. Denn so schnell wie der Jäger durch richtiges Spurenlesen seine Beute aufspüren konnte, konnte er aber auch selbst zur Beute werden. Zwar waren geweihte, Wölfe, Bären, oder Schneeleoparden, den Norn gegenüber freundlich gesinnt, wirklich wild lebende Raubtiere aber nicht. Außerdem machten nicht nur Tiere den Wald unsicher. Jormags Schergen, die Söhne Svanirs und ihre Eisbrut, Schaufler, oder in seltenen Fällen sogar Zerstörer, waren manchmal zwischen den Bäumen unterwegs. Man musste immer vorsichtig sein, egal wie ruhig einem der Wald gerade erschien.
Auf der Fährte der Beute, pirschte Alrik weiter, immer den Abdrücken des Hirschs nach, verfolgte die Spur aufmerksam, jede Faser seines Körpers angespannt, bereit zu reagieren. Nicht immer verharrte die Beute ruhig an Ort und Stelle, um den sicheren Tod durch den Jäger zu erwarten. Manchmal war sie in Bewegung, oder ein anderes Tier scheuchte sie auf. Die Jagd dann einfach aufzugeben, war nicht Alriks Art. Hatte er die Fährte einmal aufgenommen, dann suchte er sein Ziel auch, bis er es gerissen hatte. Auch wenn es Stunden dauerte. Es war einfach eine Frage der Einstellung. Ein Wolf lässt seine Beute nicht einfach so entkommen. Niemals.
Bis zu einer stillen Lichtung, führten ihn die Spuren. Dort stand er, der stolze Hirsch, mit seinem prachtvollen Geweih, neben ihm seine kleine Familie, ein Reh und zwei Kitze. Kinder hätten bei diesem Anblick erfreut gequietscht, wären losgelaufen, in der Hoffnung die Kleinen berühren zu dürfen, doch wären diese nur geflüchtet. Es war ein malerisches Bild, voller Frieden und Idylle, wohltuend für den Geist in diesen doch vom Krieg zerfressenen Zeiten, doch es war der Jagdinstinkt des Wolfs der Alrik antrieb. Er hatte in diesem Moment kein Auge für das Schöne, keine Zeit und keine Lust sich von seinem eigentlichen Ziel ablenken zu lassen. Seine Schritte wurden langsamer, seine Blicke auf dem Boden wachsamer, ehe er ein paar Meter vor dem Rand der Lichtung Halt machte, sich an einem Baum in Deckung begab und sein Ziel eine Zeit lang beobachtete. Die Tiere standen einfach da, fraßen seelenruhig Baumrinde vom Boden, als gäbe es Nichts dass ihnen jetzt schaden könnte, als gäbe es keine Gefahr im Unterholz, die ihre Klauen ausfuhr um zuzuschlagen. Langsam zog er einen der bemalten Pfeile aus seinem Köcher und legte ihn auf die Sehne seines Bogens, ehe er tief durchatmete. Vor jedem Schuss machte er sich bewusst, warum er jagte. Ein Wolf reißt seine Beute gnadenlos, doch niemals zum reinen Spaß, sondern um sein Rudel zu ernähren. Selbst bei Jagdwettbewerben erlegte Alrik Tiere zwar um sein Können unter Beweis zu stellen, doch nie wurde ein Tier dass er gejagt hat verschwendet. Das war seine persönliche Tugend, seine eine Regel. Niemals zum Spaß töten.
Seine Gedanken galten Bruder Wolf, als er den Bogen spannte. Auf der Jagd fühlte er sich ihm am meisten verbunden, seinem Tiergeist. Er ließ sich stets von ihm leiten, jagte nach seinen Lehren, folgte den Instinkten des Wolfs auf der Pirsch. Wieder sog er Luft in seine Lungen, hielt sie dort während er zielte.
Der Moment vor dem Schuss, diese eine Sekunde zwischen dem Zielen und dem Abschuss des Pfeils, war immer die Längste. Als würde die Spannung wie Funken in der Luft knistern, die Welt aufhören sich zu drehen und der ganze Wald still halten, um dem Jäger zuzusehen. Hunderte Tiere hatte er schon erlegt, aber dieser Moment, in dem das Adrenalin im Blut seinen Höhepunkt erreichte, war jedes Mal wieder eine berauschende Erfahrung.
Ein Zweig raschelte als Alrik sich nach vorne lehnte, der Hirsch hob seinen Kopf und sah sich um, doch es war bereits zu spät, als dass er noch hätte reagieren können. Das Geschoss surrte als es sich seinen Weg durch die Luft schnitt, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag, als der Hirsch tot zu Boden fiel. Das Ganze dauerte nichtmal den Bruchteil einer Sekunde. Aufgeschreckt und verängstigt flüchtete das Reh mit seinen Jungen, als Alrik sich aus seiner Deckung erhob um auf seine Beute einzufordern. Langsam ging er auf das Tier zu, der Pfeil hatte seinen Kopf hinter den Augen, unterhalb des Geweihs durchschlagen. Ein sofortiger und schmerzfreier Tod. Kein sinnloses Leid, so wie es sein soll. Einen Moment sah er auf den Hirsch hinab, ehe er ein von Kerben übersätes Stück Holz aus seiner Tasche holte und eine weitere Kerbe mit dem Jagdmesser seines Vaters hinein machte. Eine Kerbe für jedes Tier das er gejagt hatte, seit sein Vater gestorben war. Eines seiner vielen kleinen Rituale, die er durchführte um den Mann zu ehren, der ihm fast alles beibrachte, was Alrik heute konnte. Für ihn war diese Art Andenken und Ehrbietung einfach wichtig. Denn ohne diesen Mann würde er ja heute nichtmal leben, geschweige denn ein Mikkonen sein…
Eine Sekunde des Gedenkens legte er für den alten Mann in Nebeln ein, so wie er es bei jeder Beute tat, bevor das Holzstück wieder in der Tasche verschwand, und er sich den Hirsch über die Schulter hiefte, um den Heimweg anzutreten. Der stolze Jäger. Der Wolf.
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