„Du hast gestern mein komplettes Weltbild zerstört.“ hatte er ihr in trockenem Tonfall mitgeteilt. „Ich bin dir nicht böse, aber ich muss nun erst einmal einiges neu überdenken.“
Hannah war unfähig den Blick aus ihrem Kopf zu bekommen, den er ihr in diesem Moment zugeworfen hatte - Und das ohne, dass sie diesen genau hätte deuten können. Immer wenn sie darüber nachdachte interpretierte sie etwas anderes in seine Miene: Mal Unsicherheit, mal Wut, mal Ablehnung. Auch faszinierten Unglauben und Nachdenklichkeit hatte sie schon gemeint aus seinen groben Gesichtszügen herausgelesen zu haben.
Doch was auch immer die Mimik seines Gesichts gerade erzählte – das Bild im Kopf quälte sie.
Und ihr wurde bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatte, einem anderen Lebewesen ihre Wahrheit aufzuzwingen.
Nie hatte sie darüber nachgedacht, dass eine Wahrheit, die für sie so alltäglich und grundlegend war wie diese, jemand anderen vielleicht überfordern könnte.
Dass sie ein Leben erschüttern und Probleme verursachen könnte.
Wenn sie ehrlich mit sich selbst war – hatte sie gar nicht nachgedacht.
Sie war nur die ewigen ungläubigen Blicke, das höhnische Auflachen und die dummen Kommentare leid gewesen, die er ihr wie so viele andere zuvor zugeworfen hatte. Sie war in diesem Moment schlicht nicht länger willens gewesen, ihr Wissen in taube Ohre zu sprechen, Wunder in gefühllose Hände zu legen und Meisterwerke vor blinden Augen zu präsentieren.
Zumindest einem wollte sie beweisen, dass sie nicht verrückt war. Dass sie sich nicht einfach etwas einbildete und Unsinn redete. Dass sie keine weltfremde Träumerin war. Und hatte aus lauter Selbstsucht und Geltungsdrang jemandem geschadet, der ihr wohlgesonnen gewesen war.
„Seit wann kümmert es dich, was andere über dich denken, Hannah Yarim?" schalt sie sich selbst und brummte unwohl.
Vielleicht war ihr Charakter doch nicht so gefestigt, wie sie bisher immer geglaubt hatte.
~~~ ~~~ ~~~
Ein Tag zuvor:
„Leg deine Hände an seinen Stamm, schließ deine Augen – werde ganz ruhig.“ murmelte sie, Baum und Mensch genau beobachtend. Ihre eigenen Hände legten sich über die seinen, und sie regulierte ihren Atem, konzentrierte sich –
Und spürte, wie er sich versteifte und die Hände abrupt von der Rinde löste.
„Was war das?!“ Argwohn und Schrecken lagen in seiner Stimme. Sein Blick flog unstet umher, als würde er einen Angriff erwarten.
Kurz darauf war er fort.
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