Die Morgensonne erwacht gerade über dem Meer, tönt es in verheißungsvollem Gold. Doch vor jeder Reise ins Ungewisse liegt ein schmerzvoller Abschied. Die Mädchen stehen einander gegenüber, die Füße im Küstensand und die Hände mit einander verwoben. Emma ist alles, was Tabitha nicht ist, ein blasses Kind mit hellen glatten Haaren, die im Wind flattern, nur gehalten von einem Blumenkranz, wie er auch auf Tabitha's dunklem Lockenmeer sitzt, denn die Kränze waren das Geschenk der Freundin, geflochten aus den exotischen Blüten, wie sie an diesem Ort sprießen, den selbst der Winter nicht erreicht. "Du wirst mir fehlen," erklingen die Worte in einer gebrochenen Mädchenstimme, hinter der bereits ein Schluchzen lauert. Dann umarmt sie die Freundin und presst sie dicht heran an zarte Knochen und ein flatterndes weißes Kleid. Schon von Geonna und Lothario hatte es tränenreiche Küsse gehagelt, doch Emma wirkte noch weniger gefasst als die Erwachsenen, die diesen Tag immer kommen sahen. Roscoe steht in einigen Metern Entfernung zu den Mädchen vor einem kleinen Boot mit geringer Besatzung, neben ihm nur zwei Ruderer. Die Nadel muss irgendwo da draußen liegen, verdeckt in einer Bucht, das hier ist nur ein Beiboot, das sie hinaus aufs Meer bringen wird. Denn ihr Aufenthalt ist ein Geheimnis, das Roscoe nur mit den treusten seiner Männer teilt. Bill und Simjok heißen sie.
"Ich werde dich auch vermissen." flüstert Tabitha an das Ohr der anderen und presst die Augen feste zu, verkneift sich selbst Tränen, fasst das Mädchen dann aber an den Schultern und drückt sie von sich, um sie ansehen zu können. Schon hat sie wieder ein Lächeln auf den vollen Lippen. "Ich werde dir schreiben und dir von meinen Abenteuern erzählen." Es ist eine Lüge, das weiß sie, denn zu keinem ihrer alten Freunde hatte sie bisher Kontakt gehalten. Aber sie wirkt überzeugend. "Und ich werde dich besuchen kommen." Damit lässt sie Emma los und lacht vergnügt, als sie zum Vater läuft, sich noch mal umwendet und winkt. Es soll kein schmerzlicher Abschied für Emma werden, sie soll sehen, dass es gar nicht so schlimm ist sich zu verabschieden. Doch die Hand, die sie dabei in Ros seine Pranke legt, die verrät sie. Abschied tut weh.
Tabi krabbelt bis zum Ende des Botes und winkt, als die Ruderer sich mit ihr und dem Vater in Bewegung setzen. "Pass auf deinen Bruder auf. Und vergiss nicht die Sterne zu beobachten. Sonst verpasst du die Geschichte, die sie erzählen. Und gib acht auf Luci. Und wenn dich Michel das nächste mal ärgert, beiß ihm einfach in die Hand!"
Das blonde Mädchen winkt emsig, läuft sogar ein Stück weit in die Brandung hinein, in der trügerischen Hoffnung, das Boot in der Ferne würde dann aufhören zu schrumpfen. Sollte sie ebenfalls etwas nachrufen, so schluckt es der Wind, ist ihre Stimme doch längst nicht so kraftvoll wie die der Piratentochter. Diese sitzt nun mit drei Halunken in einer Nußschale. Bereits jetzt riecht es nach Tabak, Alkohol und Männerschweiß, auch wenn die salzige Meeresbriese das Odeur erträglich macht. Im Schiffsmagen wird es anders sein, doch dieser liegt noch zwei Stunden Rudern entfernt. Tabitha erfährt, dass der Schweinsnasige Bill heißt und Bootsmann auf der Nadel ist, der Stumme Simjok macht seinem Namen weiterhin alle Ehre und auch über seine Funktion an Bord lässt der Herr Vater nur wieder eine Geschichte springen, die besagt, dass sein bleiches Gesicht die untoten Horden täusche und sie so schon vor dem ein oder anderen Scharmützel mit einer Dämonenarche bewahrt hätte. Simjok scheint das nicht lustig zu finden, aber das glatte Gesicht ohne Lachfalten verrät ohnehin die Absenz jedes Humors. Bill ist das komplette Gegenteil; er gibt einen Gassenhauer nach dem anderem zum besten und lacht selbst am lautesten über die eigenen Witze. Es sind diese wenigen Momente, in denen sie zuhört, die Geschichten sie aber nicht erreichen. Sie beobachtet das Meer und lenkt schließlich auch den Blick auf das Schiff, als sie in die Nähe des Einmasters paddeln.
Das Beiboot wird eingehängt und durch gleichmäßiges Rucken an den Tauen an Bord geholt. Der Vater hilft ihr und schon steht sie da, umringt von zahnlückigen wettergegerbten Männern mit schwarzen Fingernägeln und Teerzöpfen über fleckigen zerschlissenen Leinenhemden. Huren würden sie an ihren Narben oder fehlenden Gliedmaßen erkennen – wobei es überwiegend Finger sind, die hier und da mal fehlen. Ein alter Mann mit wirrem Blick ist darunter und ein opulent bekränzter Papagei, der auf die Schulter des schweigsamen Simjoks flattert, kaum dass er nah genug heran ist. Roscoe legt Tabitha eine bärige Pranke um die Schulter und verkündet: "Das Kind ist von meinem Blut – wer es anrührt wird kiel geholt!" Die Pranke weicht und damit auch der Mann, der über das Deck schreitet und Befehle bellt: "Klar zum Anker aufholen!" Man antwortet ihm: "Großsegel ist gesetzt, Kapitän!" und aus einer anderen Ecke: "Anker ist kurzstag!" Dann wird die Nadel unter weiteren Befehlen aus der Bucht manövriert.
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