Sie drehte sich auf der Stelle um und rannte los. Hinter sich hörte Lumi das grollende Knurren ihres Begleiters. Sie hörte die Schreie des Norn und es war ihr, als hörte sie auch wie die Beine den Schnee aufwirbelten und tiefe Furchen hinein zogen. Ihre Schritte verlangsamten sich und sie keuchte schwer auf. Es stach in ihrer Brust, direkt dort wo ihr Herz war. Es war nicht richtig! Sie durfte nicht weglaufen! Wolf brauchte sie. Sie waren nur gemeinsam stark!
Der Svanir trat dem anspringenden Wolf an den Brustkorb, sodass das Tier jaulend und knurrend in den Schnee geschleudert wurde. Mit einem lauten Brüllen und gehobenem Schwert rannte der Norn auf den Wolf zu, trat erneut auf die Brust des Tieres, worauf ein grässlicher Laut die Nacht durchbrach. Er würde diesem Mistvieh den Garaus machen und würde im Anschluss die Norn jagen. Sie würde ebenso zu Grunde gehen wie das Tier. Sie würde ihm ein Kind austragen und seinen Brüdern... Nein. Er wollte sie leiden sehen, wollte sie töten. Er hob sein Schwert, bereit für den entscheidenden Stoß. Ein Grinsen trat auf seine Lippen, so selbstsicher war er, die junge Norn zu finden die sich hier versteckt hatte. Er würde sie finden und sie könnte noch so weit rennen.
Mit aller Wucht sprang sie gegen den Rücken des Norn und biss ihm in das Ohr. Schreiend gingen sie zu Boden und wirbelten den Schnee auf. Lumi schmeckte Blut und spuckte aus. Es war ein bestialischer Geschmack und sie hasste ihn. Ihre Finger schlossen sich fester um den Ast, den sie vor ihrem Anlauf aufgehoben hatte und wie sie zwischen seinen Griffen hindurch geschlüpft war, bemerkte sie erst, dass sie auf ihm saß. Er sprach Worte. Wolf knurrte atemlos. Lumi hob den Ast an und starrte einen winzigen Moment lang auf den Hinterkopf des Svanir. Dann schlug sie zu und mit einem stöhnenden Keuchen regte sich der Drachennorn nicht mehr.
Hastig krabbelte sie zu Wolf, heulte leise auf, als die goldgelben Irden sich nur träge regten und ein Winseln das Tier überkam. Sie hatte ihre Hände auf den Brustkorb Wolfs gelegt. Man musste ihr nicht sagen, dass etwas nicht stimmte. Sie wusste es. Wolf hatte sonst keine Delle. Sie schluchzte, barg ihr Gesicht im Fell des Tieres und zog daran. Ihre Finger gruben sich in das störrische Fell und immer wieder strich sie mit dem Gesicht hin und her über die Delle, doch Wolf regte sich nicht mehr. Lumi schaute auf, patschte auf die Lefzen des Tieres, kniff ihm in das Ohr und zog an einem der Läufe. Verzweiflung machte sich in ihrem Gesicht breit, als alles keine Wirkung zeigte. Wieder heulte sie auf, schüttelte nun am leblosen Körper, worauf die kleine Blutlache im Schnee sichtbar wurde genau an der Stelle, an der Wolfs Kopf war.
Hinter ihr vernahm sie ein leises Keuchen und schmerzliches Stöhnen. Sie verstummte und versteifte sich. Ihre Augen rasten umher, zu Wolf, zu den einzelnen Bäumen und Sträuchern, zu dem Lager in welchem die Beiden sich versteckt hatten. Rasch und leise, jeden Schritt gewählt gesetzt, erhob sie sich und ging zu dem einstigen Heim. Lumi schob ihre Finger zwischen Äste und Stämme, bis ihre Faust sich um etwas Kaltes und Hartes schloss. Und ebenso bedacht ging sie zurück, stellte sich über den Norn der mittlerweile auf seinem Rücken lag und sich die Sterne aus dem Sichtfeld blinzelte. Sie dachte nicht nach. Sie hob nur den Stein mit beiden Händen weit über ihren Kopf und schlug zu.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
...
Etwas heißes brannte auf ihren Wangen, dem Hals und es drängte sich auch zwischen die verschlissenen und verdreckten Verbände um ihre Hände. Keuchend und japsend hielt sie inne, starrte auf das was von dem Drachennorn übrig war und den Schnee wie auch sie selbst, blutig rot eingefärbt hatte. Sie musste blinzeln, weil ihre Sicht verschwommen und wässrig war. Lumi wusste nicht warum. Der Stein kippte ihr aus den Händen und wimmernd robbte sie zu Wolf hin, unter den sie ihren Kopf schob. Ihr gesamter Körper schien zu beben, ihr Kopf platzte schier und ihr war so heiß. So unglaublich heiß. Dennoch griff sie die Läufe Wolfs, zog ihn sich auf die Schultern und stemmte ihre Füße in den Schnee als sie aufstand und sich mit Wolf davon schleppte.
Lumi wollte es nicht wahr haben. Doch das Stück Weg, das Wolf und Lumi gemeinsam begonnen hatten, endete abrupt genau hier. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie ihn nicht wieder sehen würde.
Ihren Wolf. Begleiter, Gefährte, Bruder.
Kommentare 4