»Was machst du da?« der Blick der grünen Augen huschte zu der klaren Jungenstimme, die sich von jenseits des Zaunes an ihn gerichtet hatte. "Spielen." antwortete Tane altklug und schlug das bunte Holzkreisel einmal mehr lustlos mit der Schnur über den gepflasterten Boden, bevor er den dünnen Holzstab aus der Hand rutschen ließ und die Finger stattdessen um die geschmiedeten Stäbe des Zaunes legte, um den Jungen auf der anderen Seite mustern zu können. Sie hätten wohl kaum unterschiedlicher sein können, wie sie sich so gegenüber standen. Aljoscha, mit den widerspenstigen Haaren, die wild in alle Richtungen abstanden und den zerschlissenen Kleidern und Tane, dessen Haare brav gescheitelt anlagen mit seinem Schoßrock und dennoch schienen sie sich gerade auch ohne Worte zu verstehen, als sie sich durch das schmiedeeiserne Gitter in die Augen blickten. Plötzlich ruckte der dünne Arm Joschas in die Waagerechte, deutet am Zaun entlang, ohne dass das kühle Blau den Blick Tanes entlassen hätte. »Da hinten steht ein Baum, du könntest über den Zaun klettern, ich weiß wo wir'n Schatz finden.« flüsterte er in jener aufgeregten Weise, die klar machte, dass es keine Option darstellen würde, einen Erwachsenen in ihren Plan einzuweihen, der Tane hätte erlauben können, den Garten auf einem einfacherem Weg zu verlassen. Er warf keinen Blick zurück auf das doofe Kreisel oder auf das Haus, sondern rannte los, nur um Minuten später neben Joscha zu stehen. Nicht mehr ganz so ordentlich frisiert wie zuvor und mit einem Schlitz am Bein seiner Hose, aber wen interessierte das schon, wo doch ein wahrhaftiger Schatz auf sie wartete. Daran zweifelte Tane keinen Moment, nicht einmal in dem Augenblick, als der Andere eine Zeichnung in krakeliger Kindermanier aus der Tasche zog, die er noch dreimal in den Händen drehte und sich damit nicht als der geborener Kartenleser zu erkennen gab, bevor er bestimmt in Richtung des nahen Waldes zeigte. »Da müssen wir lang.« Nein, für Tane war klar, bei dem Anderen handelte es sich um einen echten Abenteurer, das bewiesen ja auch die beiden Zwillen, die der an seinen Hüften unter den Gürtel geschoben trug, wie echte Pistolen und an dieser Argumentation, gab es aus Kindersicht eben nichts zu Rütteln.
Sie waren sicher schon Stunden durch den Wald gerannt und durch Unterholz gekrochen, hatten gelacht und sich auch angeschrien, als sie mit geröteten Wangen und nun Beide wie wilde Gesellen aussehend an den klaren Bach kamen, der um diese Jahreszeit etwas wilder in seinem Bett dahin rauschte, als es sonst der Fall war, wo sie sich allenfalls nasse Füße und vielleicht eine Erkältung geholt hätten. Nasse Füße hatte auch Tane schon, dessen kindlicher Übermut sich auch von einem Bad im eiskalten Bachwasser nicht schrecken ließ, als Aljoscha ihn zurück rief. »'S is' falsch!« bestimmte der mit Blick auf die Karte und zeigte weg vom Wasser, in eine Richtung, in die er auch bewusst losstapfte ohne sich darum zu kümmern, ob Tane, der mit verblüffter Mine zurückblieb, ihm folgte oder nicht. "Ey, warte!" kreischte die helle Jungenstimme jedoch gleich darauf los, als er seine Schritte eilig dem Anderen nach setzte und dem die Karte unwirsch entriss, als er zu ihm aufgeholt hatte. "Ist's gar nicht guck, da ist der Bach und da müssen wir drüber." bestimmte er und dachte gar nicht daran, die Karte an ihren Besitzer zurück zu reichen oder auch nur von seinem Standpunkt zu rücken. Das machte auch das trotzig gereckte Kinn klar, während er darauf wartete, dass Joscha einsah, dass er Recht hatte. Jawohl! Das war ja auch gar keine Frage, hatte auch der Andere einsehen müssen, wenn er die eigene Zeichnung betrachtete, in der der sonst ruhig dahin plätschernde Bach eine Rolle einnahm, doch scheinbar, war der ebenso wenig bereit von seinem Standpunkt zu lassen wie Tane, so dass er sich schließlich nur in murrendem Ton zu einem »'S is' aber die falsche Stelle.« hinreißen ließ und seine Schritte nun parallel zum Bach setzte. Wie zäher, fetter Nebel hatte sich die Stimmung zwischen die beiden Jungen geschoben, die stur immer weiter bergaufwärts stapften. Stur der Meinung man selbst habe recht, als Tane plötzlich vorausstürmte und sich zu einem versöhnlichen "Guuuut, du hattest Recht!" hinreißen ließ, als er auf den Stamm eines umgestürzten Baumes stieg, und auch schon wippend ausprobierte, ob das Gewächs sein Gewicht auch über den Bach hinweg tragen würde. Er hatte schon den halben Weg hinter sich gebracht, als er über die Schulter zurück sah und Aljoscha noch immer am anderen Ufer stehen sah. "Komm schon, du Feigling! Es ist doch nur Wasser, das ist nicht hart." machte er dem Mut, dass er sich bei einem Sturz schon nichts brechen würde und wippte noch einmal kräftig mit dem Stamm auf und ab, um zu beweisen, wie sicher die ganze Sache doch war. "Ansonsten hol ich mir deinen Schatz allein." drohte er noch und wedelte mit der Karte, die er noch immer bei sich trug als er auf der anderen Uferseite vom Stamm sprang und wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Einen Schatz hatten sie an diesem Tag nicht gefunden, aber eine Horder wilder Charr verjagt, die sich als Waschbären getarnt in einer Höhle niedergelassen hatten, die die beiden ungleichen Jungen von diesem Tag an für sich als Unterschlupf bestimmt hatten. Für einen Moment schien Tane sogar wieder die Stiremen auf seinem Rücken zu spüren, die ihm der Riemen seines Vaters an jenem Abend eingebracht hatte. Verbissen hatte er damals genickt, auf die Frage hin, ob er etwas daraus gelernt hatte. Natürlich, das nächste Mal, würde er nicht mehr so dumm sein, sich erwischen zu lassen. Heute lag bei dieser Erinnerung ein Schmunzeln auf den Lippen des Mannes, während er in der Dunkelheit an die Decke des Gasthauses starrte, in dem er noch keine Ruhe fand, weil ihn die Frage aufwühlte, ob er Joscha in dieser Stadt wiederfinden würde, nachdem sie sich nun bereits einige Jahre nicht mehr gesehen hatten.
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