Die Bärin

Das Feuer knisterte wohlig und der Geruch des brennenden Fichtenholzes durchströmte den Raum.
Draußen standen bereits die Sterne am Himmel und das blasse Mondlicht umspielte die Berge und Wälder wie ein Nebel aus flüssigem Silber.
Söven und der Welpe saßen auf einigen dicken, wärmenden Fellen vor dem Kamin.
Gedankenverloren starrten die blauen, leuchtenden Kinderaugen Thorids in die tanzenden Flammen während die rauchige Stimme ihrer Großmutter leise direkt neben ihrem Ohr erklang.


„Die Bärin hatte schon viele Winter erlebt.
Das Fell um ihre Schnauze war fast so weiß wie der Schnee, der hier im Tal mit dem Frühlingsanbruch langsam verschwand.
Der Rest war grau meliert und zeichnete sie als eine der Ältesten in der Gegend.
Sie hatte schon vielen Jungen das Leben geschenkt, hatte sie wachsen sehen und irgendwann aus den Augen verloren.
Die Sonnenstrahlen wurden schon etwas stärker und die ersten Zugvögel waren bereits zurück gekehrt und erfüllten die frische Luft mit ihren Gesängen.
Auf einer mit Blumen bedeckten Wiese rastete die Bärin und dachte nach.
Sie war sich sicher, dass sich ihr Leben dem Ende neigte und als sie so da lag und in den Himmel sah, da fasste sie eine Eule ins Auge.
Hoch oben zog sie ihre Kreise zu dieser für sie ungewohnten Stunde.
Da dachte sich die alte Bärin: Wenn ich nur einmal so hoch oben sein könnte.
Von dort sieht man das ganze Land und all meine Kinder, wie sie durch Wälder und Wiesen streifen.
Und so fasste sie einen Entschluss und machte sich auf, den höchsten Gipfel zu erklimmen, den es dort gab.“


Kurz räusperte sich die Ältere und nahm einen Schluck vom warmen Met um ihre Kehle neu anzufeuchten ehe sie dann fortfuhr.


„Schon am ersten Tag merkte sie, dass es ein schwieriges Unterfangen war.
Bereits am Fuß des Berges lösten sich oft Steine unter ihrem Gewicht und brachten sie ins Rutschen.
Doch die Bärin blickte eisern gen Himmel und grub ihre Krallen noch fester in den Boden.
Bald wurde die Luft dünner, der Schnee und das Eis dicker und auch die Luft war schneidend kalt und zwang sie den Blick zu senken wenn wieder ein Windstoß in ihr Gesicht fuhr.
An den steilen Hängen fand sie oft keinen Halt und musste fast schon kriechen um überhaupt voran zu kommen.
Die Nacht kam und die Kälte kroch endgültig in den letzten Winkel ihres Körpers und nahm ihr ihre Kraft und ließ sie schwach und zitternd im Dunkel auf den Morgen hoffen.
Auch als sich die Sonne quälend langsam über die Berggipfel schob und die ersten wärmenden Strahlen auf ihr Fell schienen und die Eiskristalle darin funkeln ließen lag sie noch lange dort bis sie endlich die Kraft gefunden hatte um ihren Weg fortzusetzen.
Bereits die ersten Schritte fielen ihr schwer und Schmerz durchzuckte ihre müden Glieder.
Da dachte sie an all die Jahre die sie erlebt hatte und wusste, sie würde es schon zum Gipfel schaffen, wenn sie es nur wirklich wolle und mit aller Kraft dafür kämpfen
würde dieses Ziel zu erreichen.
Der Tag zog sich hin und die Bärin kam auf dem steilen und glatten Boden nur langsam voran.
Immer öfter stolperte oder rutschte sie und immer öfter musste sie rasten um neue Kraft zu schöpfen.
Die Sonne neigte sich schon dem Horizont entgegen und färbte den Himmel als würde er brennen, als sie endlich mit letzter Kraft den Gipfel erklomm.
Schmerz steckte in jedem ihrer Glieder und so kauerte sie erst einmal nieder und atmete schnaufend die kalte Luft tief ein.
Die Augen zusammen gekniffen wusste sie, dass ihr Ende gekommen war.
Doch dann öffnete sie die Augen und selbst der Schmerz verblasste als sie im warmen Licht der Abenddämmerung das Land unter sich sah.
Ihre Heimat.
Die Wälder und Wiesen breiteten sich wie ein grünes Meer unter ihr aus und selbst die anderen Berge um sie herum wirkten so klein und zerbrechlich.
Ihr gesamtes Leben lag vor ihren Augen.
Ihre ganze Welt. Alles, was sie in all den vielen Jahren erlebt hatte.
Dort unten auf den Wiesen sah sie ihre Kinder mit deren Kindern über die Wiesen toben und durch die Wälder wandern.
Sie hatten ihr Leben noch vor sich.
Und als sie die Augen schloss wusste die alte Bärin, dass sie in ihnen fortleben würden.
Und so würden sie ewig in den Tälern wandern.
Der Schmerz war verflogen und als langsam die Nacht die alte Bärin in das samtige Schwarz und die damit einhergehende Stille hüllte, da hörte ihr Herz auf zu schlagen und ihr Atem stand still.
Doch ihr Geist zog zurück in das Tal und noch heute spüren ihre Nachkommen manchmal ihre Präsenz wenn sie durch den Wald streifen oder über die Wiesen jagen.“


Ein leises Gähnen durchdrang die plötzliche Stille als sich Thorid unbeholfen mit der kleinen Faust über die müden Äuglein rieb.
Mit liebevoll strahlenden Augen und einem sanften Lächeln auf den Lippen betrachtete Söven ihre kleine Enkeltochter als sie vorsichtig auf den Arm nahm um sie zu ihrer Wiege zu tragen.

Kommentare 1

  • Sehr schön geschrieben und eine tolle Legende. Gefällt mir, weiter machen! :) <3