Eine schwüle Mittagshitze liegt über der Stadt wie ein Schleier, unsichtbar und doch so niederdrückend. Am Abgrund steht ein Mädchen. Es ist schmutzig und dürr, vielleicht gerade mal acht Jahre alt und lediglich in Lumpen gehüllt; der Abgrund ist die Balthasar-Hochstraße – die Außenseite. Vorsichtig arbeitet sich das Mädchen voran, jeder Schritt, den ihre nackten Füße setzen, ist vorsichtig gewählt. Sie hält für einen Augenblick inne, ein Verschnaufen, in dem sie ihren Blick über die Dächer der Stadt wandern lässt – vom Schrein des Grenth über das gesamte Ossa, die Straße entlang bis zum Fuße eben jenes Abgrundes an dem sie nun hängt. Nur Wenige quälen sich in die Sonne heraus, sodass die Straßen fast leer sind. Sie wendet ihren Blick wieder auf ihr Ziel – das Mädchen hat es von unten gesehen: Ein offenes Fenster. Eine deutlichere Einladung gibt es wohl nicht. Naja, der Weg zum Fenster könnte etwas einladender sein, aber das ist nichts, was das Mädchen abhält, und so setzt sie ihren Weg fort.
Zugegeben, so hoch kletterte sie noch nie, aber ob man von drei Stockwerken oder von zehn herunterfällt macht wohl keinen Unterschied – nicht für jemanden wie sie.
Schließlich erreicht sie das Fenster - es ist zum Glück noch immer offen – und sie steigt in einer routinierten Bewegung hinein. Das Mädchen hat Erfahrung, sie war schon in dutzenden Räumen so eingestiegen, sie wendet ihr Haupt langsam von links nach rechts, während ihre Augen den Raum abtasten. Heute ist es besonders einfach: Eine Schatulle auf der Kommode. Sie riskiert ihr Leben und arbeitet sich den ganzen Weg in der stickigen Hitze an das Fenster heran und hier ist es dann so simpel? Man könnte fast denken, es sei eine Falle, aber dafür hat das Mädchen keine Zeit. Sie steuert direkt das verzierte Kästchen an, reißt die Klappe hoch und steckt ihre kleine Hand hinein, um alles zu greifen, was sie kriegen kann, und dann wieder durch das Fenster zu verschwinden.
Es ist Abend, schon recht dunkel draußen, und die Dächer am Horizont sind in ein glühendes Rot getaucht. Das Mädchen ist nicht gestürzt, sie sitzt zu Hause am Fenster und lässt ihren dürren Arm heraushängen. Weiter hinten im großen Zimmer sind die anderen Kinder; die meisten beschäftigen sich untereinander und spielen irgendwas. Aus den Augenwinkeln bemerkt das Mädchen, dass Ben sie anstarrt. Es nervt sie. Wenn er so weitermacht, wird es noch irgendwann jemand bemerken und der würde dann verbreiten, das Mädchen und Ben wären verknallt. Nicht dass es sie interessieren würde..
- aber eigentlich schon. Soll er eben ihren Hinterkopf anstarren, das Mädchen wendet sich ganz dem Fenster zu, um das letzte Treiben auf den Straßen zu beobachten und ihre Gedanken schweifen zu lassen. Sie wird aufmerksam, als eine junge Frau auf den Hof des Waisenhauses einbiegt. Sie trägt ein langes, schlichtes Kleid in Oliv, ihre Frisur hochgesteckt. Sie sieht nicht so aus, als käme sie, um jemanden zu adoptieren – meistens kommen sie dann zu zweit und erst recht nicht erst zu Anbruch der Nacht. Sie verfolgt die Frau, bis diese aus ihrem Blickfeld verschwindet und das Haus betritt. Es dauert nicht lange, da hört sie Stimmen. Zwei Personen erklimmen die splitterschleudernde, alte Eichentreppe, jaulend und knartschend unter jedem Schritt. „Ich hoffe schwer für sie, dass sie nichts damit zu tun hat.“, hört sie die Matrone gedämpft durch die geschlossene Tür. Das Mädchen seufzt resigniert. Es hat sich herumgesprochen. Wenn etwas verlorengeht, schaut erst mal im Waisenhaus im Östlichen nach; die Eine da stiehlt wie eine Elster oder eine Skritt. Eine Skritt-Elster! Wenn Skritt Flügel hätten, ja. Ein Donnerschlag reißt sie aus ihren Gedanken heraus. Es ist nicht das Hitzegewitter, sondern die Matrone, die die Tür so wuchtig aufstößt, dass die Wand neben der Tür bereits auf Höhe der Türklinke eingekerbt ist. Das Mädchen kann sie nicht ausstehen. Seit sie denken kann, hatte sie nur Probleme mit der Frau. Die Matrone ist mittlerem Alters – vierzig, vielleicht bald fünfzig Jahre -, sie hat eine kräftige Statur für eine Frau, eine richtige Hausfrau eben, und dann noch für so viele Kinder. Sie trägt noch ihre fleckige Schürze, wahrscheinlich hat der Besuch sie gerade beim Kochen unterbrochen. Mit energischen Schritten marschiert sie auf das Mädchen zu; ihr Blick sagt bereits alles. Sie weiß, dass das Mädchen schuldig ist. Sie ist es immer. Die junge Dame folgt der Matrone und nun macht sich langsam der Geruch des unten kochenden Essens im Zimmer breit, sodass dem Mädchen der Magen zu knurren beginnt.
„Hast du wieder gestohlen, Mädchen?“, bellt die Matrone das Mädchen an und dieses schüttelt nur den Kopf: „Ich hab' nix' gemacht.“
- „Sie hat es in ihrem Kissen versteckt.“, hört sie eine Stimme von links. Sie braucht einen Moment, bis sie feststellt, dass Ben sie verraten hat. Sie kommt kaum dazu, ihm einen giftigen Blick zuzuwerfen, da packt eine kräftige Hand das Mädchen am schwarzen Schopf und zerrt es grob zu ihrem Bett hinüber. „Rausholen!“, mault die Alte, am Bett angekommen, doch das Mädchen rührt sich nicht. Wie ein Adler im Sturzflug reißt die Matrone das Kissen schließlich an sich und verteilt dessen Inhalt auf dem Boden. Stroh rieselt hinab und Teile ihres Kissens sind bald im halben Zimmer zu finden. Inmitten des Strohniesels sieht man es dann blitzen. Das Mädchen verfolgt den Gegenstand, bis dieser hörbar zu Boden geht. Eine silberne Halskette.
Ein Peitschenhieb, so kommt es ihr zumindest vor, bloß noch viel schlimmer. Eine Ohrfeige mit Rechts, die das Mädchen taumeln und für kurze Zeit helle Sterne und bunte Farben von links her sehen lässt. In ein paar Minuten würde man einen genauen Handabdruck der Matrone auf ihrer linken Gesichtshälfte sehen können. „Ich habe wirklich die Schnauze voll von dir. Sammel' das Stroh wieder ein, für dich gibt es heute nichts mehr zu essen! Morgen sehen wir weiter.“ Die junge Dame hat die Halskette bereits aufgehoben und kurz begutachtet, ehe sie der Matrone zunickt und sich abwendet. „Und ihr anderen kommt essen!“, geht es an die übrigen Kinder, die die Szene schaulustig und schadenfroh grinsend verfolgt haben. Dann verschwinden sie alle und lassen das Mädchen inmitten des Strohs zurück, wo dieses noch für einen Moment verharrt. Ihr knurrender Magen befreit sie aus ihrer Versteinerung und plötzlich meldet sich auch ihre pochende linke Gesichtshälfte. Wenn sie hier kein Essen kriegt, muss sie sich eben etwas besorgen. So steuert sie wieder das Fenster an, an dem sie gesessen hat. Auf dem Weg dorthin hält sie kurz inne, als ihr Blick an Bens Bett hängenbleibt. Ben, diese falsche Schlange! Erst schöne Augen machen und dann so hintergehen. Sie überlegt sich, wie sie es ihm heimzahlen kann, doch ihr rebellierender Magen erinnert sie auch dieses Mal an Wichtigeres. Später. Ben kriegt noch, was er verdient. Sie steigt aus dem Fenster. Nachts dürften sie eigentlich nicht mehr draußen sein, aber sie wird zurück sein, bevor die alte Schrulle etwas bemerkt. Geübt hangelt sie sich die Fassade hinab, bis sie auf dem Boden ankommt. Als sie sich umdreht, steht ein großer Schatten vor ihr. Breite Schultern, ein schwerer Mantel und ein großer Hut. Ein Mann und er steht auf dem Hof des Waisenhauses. „Na, was machst du denn da?“, hört sie die tiefe Stimme des Mannes. Das Mädchen linst kurz zum Fenster hinauf. „Klettern. - 'nd was suchst du hier?“, gibt sie frech zurück.
Der Mann fährt sich mit der Hand über sein Kinn und sieht auf das Mädchen hinab.
„Ach. Ich glaube, ich habe schon gefunden, was ich suche.“
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