Vorzeichen

Vorzeichen

Ihr Atem hing in feinen Dampwölkchen vor ihrem Gesicht, während sie sich einen Weg durch den dichten Schnee bahnte, der um sie herum wirbelte. Die Luft war schneidend kalt und bereits vor einigen Augenblicken hatte sie das erste Donnergrollen des herannahenden Schneesturms gehört. Bald würde der Wind noch einmal auffrischen, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete, und ihr gänzlich die Sicht nehmen. Dennoch setzte die Jungnorn unbeirrt einen Schritt vor den nächsten, völlig unberührt von der eisigen Kälte, die sie umgab. Das schlohweiße Haar wirbelte unbändig um ihren Kopf und sie war von der zugeschneiten Umgebung kaum zu unterschneiden. Der Wolf an ihrer Seite wich keinen Millimeter, begleitete Schritt für Schritt ihren Weg zurück Richtung Stadt, aus der sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgebrochen waren. Aller Ermahnungen der Eltern zum Trotz hatte Ystrid noch einmal die Hütte verlassen und sich Richtung Wald aufgemacht. Der nahende Sturm hatte allenfalls die ersten, fernen Ausläufer der Berge erreicht, also blieb ihr wohl noch genug Zeit für ihr Vorhaben. Vor zwei Tagen hatte sie das Nest einer Füchsin ausgemacht, dass sie für ihre Jungen gebaut hatte und seit dem hatte sie dort auf der Lauer gelegen. Sie hatte es beobachtet, aber die Füchsin war nicht gekommen. Vielleicht war sie einem Jäger zum Opfer gefallen oder einem größeren Raubtier, wie es der Kreislauf des Lebens sein konnte. Doch ihr Herz hing an den Welpen, die sie dort gesehen und bei ihrem Spiel beobachtet hatte, also war sie trotz des Verbots ihres Vaters mit Sari davon geschlichen, um nach den Jungtieren zusehen. Ihr Weg hatte sie weit weg vom Tal geführt und sie vermutete, dass sie bereits vermisst würde, noch bevor sie ihr Ziel überhaupt erreicht hatte. Dennoch ließ sie sich nicht beirren und stampfte weiter, als der Wind anfing kräftiger um sie herum zu blasen und sich der Himmel schneller verdunkelte, als sie angenommen hatte. Das Nest der Polarfüchsin lag an einem Hang, versteckt zwischen mehreren kleinen Felsen. Der Aufstieg war mühsam gewesen und als sie dort angekommen war, hatte sie lediglich ein leeres Nest vorgefunden. Spuren konnte sie keine mehr entdecken, vielleicht war die Füchsin doch noch gekommen oder die hilflosen Welpen waren anderweitig verschwunden. Halb besorgt, halb beruhigt wollte Ystrid sich gerade abwenden, als Sari die Ohren aufstellte und die Nase schräg nach rechts wandte. Stirnrunzeld schob sich die Jungnorn noch etwas weiter durch den Schnee in die Richtung, die ihr die Wölfin gewiesen hatte und blinzelte gegen den Schnee an, der ihr in die Augen wehte. In einer fast zugewehten Kuhle unterhalb eines größeren Felsens erspähte sie plötzlich einen der Welpen, zittern und zusammen gekauert, von seinen Geschwistern keine Spur. Ystrid ließ sich auf die Knie sinken, streckte furchtlos die Hände aus und umfasste das kleine Fellbündel vorsichtig. Ohne sich groß zu wehren ließ sich das frierende Jungtier behutsam unter ihre Robe an ihre warme Brust schieben. Mit einer Hand das Tierchen haltend, richtete sich Ystrid wieder auf und nickte Sari zu. "Wir sollten sehen, dass wir zurück gehen." formten ihre Lippen die Worte mehr als das sie im tosenden Wind zu hören gewesen wären.


"Wir müssen sie suchen!" Ragnas Stimme schien gegen den tobenden Schneesturm ankämpfen zu wollen, so laut grollte sie aus seiner Kehle. Freyjas sorgenerfüllte Augen ruhten auf der Gestalt ihres Mannes, während sich die anderen Norn im Schankraum kurze Blicke zuwarfen. "Ich werde jedenfalls nicht abwarten und hoffen, dass meine Tochter vielleicht einen Unterschlupf gefunden hat, um am nächsten Tag ihre...." fuhr der Krieger grimmig fort, wagte es jedoch nicht, seine Befürchtung laut auszusprechen aus Angst, dass sie vielleicht doch wahr würde. "Jeder der mitkommen mag, soll sich bereit machen. Wir brechen in einer handvoll Augenblicken auf." ruckartig wandte er sich ab und stürmte aus dem Schankraum. Ein paar der Norn, die den Sturm bei einem prasselnden Feuer und einem guten Humpen Met hatten ausharren wollen, erhoben sich ebenfalls. Einige nickten der Wirtin zu, deren Tochter sich offenbar den Worten der Eltern widersetzt und sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte. "Wir werden sie finden." brummte Arne der Schmied, knallte seinen leeren Humpen auf den Tisch und stand als Letzter auf. Freyja nickte mit bangen Blick, obschon dies das einzige war, was die Sorge um ihre Tochter verriet. Äußerlich gefasst, tobte in ihrem Inneren jedoch ein ähnlicher Sturm wie der, der draußen um die Häuser peitschte. Die Befürchtung, Ystrids Glückssträhne sei gerissen, pochte immer heftiger im Inneren ihres Schädels und vertrieb jeden anderen Gedanken daraus. Ihr war, als wäre ihr Mann Ragna gerade erst aus der Taverne gestürmt, da stieß er schon wieder die Tore auf "Du bleibst hier, falls sie doch zurück kommt." sagte er, trat zu seiner Frau und schloß sie kurz in die Arme. Dann nickte er in die Runde und machte sich auf zu den Wartenden vor der Taverne, um sich auf den Weg zu machen. Mögen die Geister meine Tochter beschützen flehte er innerlich, während er mit grimmigem Blick durch den Schnee Richtung Stadttor stampfte.


Ystrids Fuß rutschte weg und sie schlingerte gute zehn Meter den Abhang herunter, bevor sie mit Hand und Füßen wieder Halt finden konnte und so ihre Abfahrt stoppte. Mittlerweile war sie blind, so dicht war der tobende Schnee geworden. Finger und Zehen spürte sie schon lange nicht mehr, doch sie wusste, Sari war immer noch an ihrer Seite und auch das kleine Fellbündel unter ihrer Robe brauchte sie, also rappelte sie sich wieder auf und setzte ihren Rückweg fort. Jeglicher Orientierungspunkte beraubt, blieb ihr nur, sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Sie wusste, kein Schneesturm währte ewig, also brauchte sie nur lange genug ausharren, immer in Bewegung bleibend, dann wäre auch dieser hier irgendwann vorbei und sie könne wieder zurück in die Hütte ihrer Eltern kehren. Sie würde sich vermutlich ein richtiges Donnerwetter anhören müssen, dass vermutlich schlimmer als dieser Sturm hier war, aber auch das würde sie stoisch ertragen. "Komm." murmelte sie, ohne das ein Laut an ihre Ohren drang und setzte weiter einen Fuß vor den anderen, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie ihre Füße überhaupt trugen oder in welche Richtung sie ging.


"Hierlang!" brüllte Ragna, um den Sturm zu übertönen und wandte sich gen Norden. Sie hatten Hoelbrak verlassen, waren ein gutes Stück durch das Tal marschiert und hatten jetzt einen der Pfade Richtung Gebirge eingeschlagen. Der Krieger hatte keine Ahnung, wie er seine hellhäutige und weißhaarige Tochter in diesem Schneechaos finden sollte, und dennoch war er fest entschlossen, genau das zu tun. Es war ein Glücksspiel, bei dem er alles auf eine Karte setzte. Vor zwei Tagen hatte Ystrid ihm etwas von einem Nest erzählt, er hatte nur mit halbem Ohr zugehört, weil sie ständig von irgendetwas erzählte, dass sie entdeckt hatte und er gerade beschäftigt war. Jetzt, im nachhinein, verfluchte er diesen Moment der Unaufmerksamkeit. Aber er kannte seine Tochter nur zu gut, sie hatte irgendetwas von Welpen erzählt und er traute ihr ohne Weiteres zu, sich allein auf den Weg gemacht zu haben, um die Jungtiere vor dem Sturm zu retten. Hätte er nur besser zugehört, dann wüsste er jetzt, wo genau dieses verfluchte Nest lag! So blieb ihm nur eine wage Richtungsangabe, der er blind folgte in der Hoffnung, seine Tochter zu finden.


Als sie dieses Mal ausrutschte, stand Ystrid nicht mehr so schnell auf. Ihr linker Fuß rutschte in eine kleine Felsspalte, die unter dem dichten Schnee verborgen gewesen war und als sie den nächsten Schritt machte, strauchelte sie und fiel. Mit einem Knacken, dass sie nicht hörte, brauch ihr Knöchel, aber auch das nahm sie nicht war, darum bemüht, nicht auf das Jungtier unter ihrer Robe zu fallen. Am Rande der Erschöpfung wälzte sie sich auf den Rücken, zog den gebrochenen Fuß aus der Felsspalte und konzentrierte sich aufs Atmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Der Sturm schien ihr die Luft aus den Lungen reißen zu wollen und mittlerweile schien das Fellbündel unter ihrer Robe das einzig warme an ihr zu sein. Sari stubste sie mit ihrer kalten Nase an und zog dann an ihrem Ärmel, doch Ystrid rührte sich nicht. Sie musste sich nur einen kleinen, einen ganz kurzen Augenblick ausruhen, dann hätte sie wieder genug Kraft geschöpft, um den Heimweg anzutreten.


"Sieh doch! Da!" Arne stieß gegen Ragnas Schulter und deutete durch den Schneesturm nur wenige Meter vor die kleine Gruppe. Ragna kniff die Augen zusammen und versuchte auszumachen, welchen der grauen Schatten im Sturm Arne wohl meinte, als einer davon auf ihn zu huschte und an ihm empor sprang. "Sari!" der Krieger erkannte die Wölfin sofort, die seiner Tochter nicht eine Sekunde von der Seite gewichen war, seit dem er sie ihr geschenkt hatte. "Sari." wiederholte er stumpf, doch da hatte sich das Tier schon wieder herum gedreht und stemmte sich gegen den Sturm. Wortlos taten es ihr die Norn gleich, kämpften sich ein gutes Stück an der Bergflanke entlang, bevor der Wolf die Richtung änderte und langsam, gegen den stürmenden Wind kämpfend, den Berg erklomm. Für Ragna dehnten sich die Minuten zu Stunden und in diesen Augenblicken zählte allein, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als die Wölfin sich schließlich niederlies und die Schnauze in den Schnee steckte, blieb er kurz irritiert stehen und sah sich um, soweit es die Schneeflocken zuließen. Weit und breit konnte er seine Tochter nicht ausmachen. Doch Arne, nicht blind durch die Sorge um seine Tochter, ließ sich sofort auf die Knie fallen und begann im Schnee unter den Pfoten des Wolfes zu graben. "LOS!" brüllte er gegen das Tosen an und es dauerte nicht lange, bis die Norn sich durch Schneeschicht um Schneeschicht schaufelten. Mit jeder Schaufel mehr, die seine Hände zur Seite hieften, klopfte Ragnas Herz drängender in seiner Brust. Er hatte schon einmal, damals bei ihrer Geburt, geglaubt seine Tochter verloren zu haben und war eines Besseren belehrt worden. Bei allen Geistern dachte er schenkt sie mir ein zweites Mal. Ich schwöre euch, ich binde sie fest wenn es sein muss, damit sie eure Güte nicht noch einmal über die Maßen strapaziert. Noch während er den Gedanken zu Ende dachte, hörte er ein "Da!" neben seinem linken Ohr. Im selben Augenblick stießen seine Hände gegen etwas hartes, eine dicke Schneeschicht, die sich einer Halbkugel ähnlich, um etwas legte, dass sich darunter befand. Wie ein Kokon erschien es ihm und es gelang ihm nicht, sie zu durchstoßen. Ruckartig zerrte er sein Schwert vom Gürtel und holte zu einem Hieb aus, doch Arne der Schmied fiel ihm in den Arm. "Vorsicht!" formten seine Lippen und Ragna nickte. Kräftig, dennoch kontrolliert, durchbohrte er an einer Seite die dicke Schneeschicht und schaffte so ein Loch, dass sie mit ihren Händen vergrößern konnten. In diesem Kokon lag, zusammengerollt wie eine Kugel, seine Tochter, die Arme seltsam um die Brust geklammert und eiskalt - aber sie atmete noch. "Geister, ich danke euch." stieß der Krieger dankend hervor und eilte sich, das reglose Mädchen aus seinem kalten Schneegrab zu befreien. Als er seine Tochter in seine Arme zog stieß er an etwas warmes, weiches, dass sich unter ihrer Robe befand. Der Polarwuchswelpe stieß ein protestierendes Quieken aus und Ystrids Augen flogen auf, mit einem strahlend blauen Leuchten erfüllt.