Eine Möwe zieht weiter...

Vielleicht erinnert sich so manche Seele noch daran, wie gröhlend die Möwen durch Löwenstein zogen um die Ethik der Freiheit und des Rums zu vertreten. Vielleicht besinnt sich noch einer des Kapitän Jones und der Jungmöwe, die nicht selten seinen Schatten mimte. Vielleicht kennt noch einer Geschichten von Kugeln, die in Füßen steckten und einer jungen Piratin auf Krücken, Anekdoten, die von Schürzenjägermöwen sprachen, von reichlich Trunk und wenig Schotter, von schenkenden Rotschöpfen und darüber mürrischen dunkelhaarigen Männern, die nicht selten fragwürdige angebissene Brote in ihren Taschen trugen.


Selbst wenn nicht, macht das nichts aus, lebt die Legende der trunkenen Möwen doch in den Herzen jener weiter, die es noch immer nach dem Meer sinnt. Schiff hin oder her, nein, alleine die Planken und Maste eines solchen machen nicht den Piraten aus. Doch was genau mag es sein, dass einen zu einem würdigen Träger dieses Titels macht? Liegt das Geheimnis in der Zahl von Städten, die man geplündert hat? Liegt die Antwort in den Leben, die man genommen? Oder verbirgt sich des Rätsels Lösung in der Zahl von Schiffen, die man gekapert oder Münzen, die man erbeutet hat?


Sicherlich weiß selbst so mancher eingefleischter Seebär nicht so richtig auf diese Frage zu antworten. Vielleicht ist es ein Gefühl, das ausreicht oder ein Impuls, ein Flüstern des Herzens, das immer wieder dazu lockt sich als Piraten – oder in unserem Fall Möwe – zu sehen.


Die betrunkene Möwe liegt noch immer auf dem Grund einer Bucht und erleidet das Schicksal, das viele Schiffe im Laufe der Zeit ereilte. Einsam und verlassen, aber nicht vergessen, noch immer begehrt, fristet sie ihre Jahre, bis man sie endlich aus ihrem Grabe hebt.


Die Crew indes hat es in alle Richtungen der Welt verstreut, können doch nur die Sechs sagen, wohin es den Kapitän geweht hat, wo der Navigator verblieben ist und was aus dem Schützen wurde, der lieber mit Vögeln sprach als mit Menschen. Scheinbar sind alle von der Bildfläche verschwunden, ist es sogar im Rahmen des Möglichen, dass sie ihren endgültigen Frieden gefunden haben mögen.


Doch ganz gleich wohin mancher ging und ob alle noch atmen – eine Seele hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Geist der Möwe weiter zu leben. In piratiger Kluft und mit dem roten Tuch der Möwe gezeichnet, schlendert sie dieser Tage durch die Straßen und Gassen von Götterfels.
Neue Pläne gilt es zu schmieden, sich neue Ziele zu stecken und neue Verbündete zu ergattern, ist das Leben als Pirat doch eines, das nicht vollständig alleine geführt werden sollte. Wo der Käpt’n in ihren Augen bereits aufgegeben haben mag, ist das Feuer in dem Rotschopf erst sich richtig entfacht. Aufgeben, nein, das tut eine Möwe nicht. Die Flinte ins Korn werfen? Wie soll man denn dann damit schießen? Nein, motiviert und lebensfroh, lächelnd und scheinbar unbekümmert, gilt es nun erst Recht die Ärmel hochzukrempeln. Mit dem Aufbau von Löwenstein mag sich viel gewandelt haben und mit dem Verschwinden der letzten bekannten Möwen mag es schwieriger werden, denn je zuvor. Doch wäre Violet sicher nicht das, was sie sein möchte, würde sie nun einfach die Segel streichen.
So beginnt nun ein neuer Abschnitte im Werdegang einer vergessenen Crew, ein ganz neues Kapitel in einem fast unbeschriebenen Buch:


49. Koloss 1329 N.E.

Logbucheintrag


Nach den wirren Wochen der vergangenen Monate, reichlich Rum und vielen Gedankengängen, kann ich endlich damit beginnen, wieder nach Vorn zu sehen.
Es ist mir gelungen für einen erschwinglichen Preis eine Unterkunft zu beziehen, die wohl vorerst als Hauptquartier der Crew herhalten muss. Klein und überschaubar, das Ganze, und für mich – das verbliebene Mitglied der Möwen – bietet es mehr als genug Platz.


Ich habe beim Verlassen des Unterschlupft eine Nachricht hinterlassen, sodass man mich finden kann, sollte man mich wirklich suchen. Hier gestehe ich, dass ich nicht davon ausgehe, dass es je passieren wird, aber: Eine Möwe sorgt vor. Sicher ist nun einmal sicher.


Nachdem nun alles so weit wie notwendig eingerichtet und vorbereitet ist, kann ich mich dem Ziel weiter widmen. Frage hier bleibt: Welches Ziel genau?
Die Pläne waren bisher immer darauf ausgerichtet, Gold für ein neues Schiff zu sammeln oder aber, im besten Falle, genug zu … verdienen … um Die betrunkene Möwe zu bergen. Ein Unterfangen, das mich im Alleingang Jahre kosten dürfte. Zudem: Ich habe viel gelernt, aber das Segeln und Navigieren war nie Teil meiner Ausbildung… Eben auf Grund von akutem Schiffmangel.
So bleiben nur folgende Punkte abzugrasen:


- Sich über Wasser halten
- Sich in Geduld üben
- Einkünfte beziehen (die Ersparnisse werden nicht ewig halten)
- Ausschau nach neuen Mitgliedern für die Crew halten
- Ausschau nach alten Möwen halten
- bisher angeeignete Fähigkeiten weiter ausbauen


Viel gibt die Liste sicherlich nicht her, aber es ist genug um sich beschäftigt zu halten und somit nicht dem Wahnsinn zu verfallen.
Tun wir was Möwen immer tun: Auf das Beste hoffen und vom Schlimmsten ausgehen.


Hierbei tut sich aber eine gewichtige Frage auf: Suche ich einen neuen Kapitän für die Crew oder bin ich automatisch eben solche, weil ich willens bin sie wieder aufzustellen?
Manchmal wüsste ich gerne, wen man hier um einen sinnvollen Rat bitten könnte.


Nun, so ist der Stand der Dinge an diesem Tag:


Wir haben eine Basis – klein aber fein, ein wenig Geld und eine zumindest kleine Perspektive.
Das ist doch schon mal ein Anfang.


Gez: Violet Hanson, Quartiermeisterin