Seine Lippen legen sich auf die ihren und verschließen ihren Mund sogleich, welcher sich geöffnet hatte, um die Stimme aus ihrer Kehle entfliehen zu lassen. Die zärtliche Umarmung dieser Liebkosung lässt sie jedoch sofort innehalten und für einen Moment vergessen was sie ihm mitteilen wollte. Seine kräftigen Hände betten sich an ihre Wangen, streicheln sie und betasten ihre Gesichtskonturen. Und sie tut es ihm gleich und hebt ihre Hände, um sie durch seinen dunklen Bart auf sein Antlitz zu legen. Ihre vergleichsweise zarten Finger legen sich auf seinen Hinterkopf und beginnen sich im flüchtigen Rausch dieses Moment in den Untergrund zu krallen. Als wolle sie ihn nicht mehr loslassen, wird der Griff bestimmter und der Kuss eindringlicher. Doch er ist es nun der einen Schritt zurück macht und sich gegen ihren Halt presst, um sich zu lösen. Für den Moment hatten beide ihre Augen geschlossen, um diese kurze Zeit mit innerer Einkehr zu genießen. Doch nun sieht er in ihr Antlitz. Seine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln, seine Augen sprechen von Liebe gegenüber jener Frau, welche vor ihm steht. Sie hingegen benötigt einen Moment, bevor auch sie aufsieht. Ihr Mund ist noch immer einen Spalt weit geöffnet und die Blicke ihrer blauen Augen kreuzen sich mit den seinen. Anders als er scheint sie ihn besorgt anzusehen und hält ihn noch immer mit ihren Händen fest.
"Bitte verlasse uns nicht.", spricht das Nornweib zu ihrem Mann. Die flehende Stimme ist gedämpft, fast schon flüsternd und kann kaum den Klang der Vögel übertönen, welche sich auf den Bäumen um das Gehöft niedergelassen haben und in der erwachenden Frühlingssonne ihre Lieder anstimmen. Der bärtige Riese verbreitert sein Lächeln und streichelt ihr noch einmal mit der rechten Hand über die Wange. "Und ich bitte dich, lass mich ziehen, damit ich eine Legende aus meinem Leben schmieden kann. Ich habe nur das eine. Und es soll erfüllt von Ehre und Ruhm sein, der euch beiden gilt! Euch die ich mehr als alles auf dieser Welt liebe.", antwortet er mit seiner tiefen Stimme, welche er versucht eine fröhliche Farbe zu geben. Dann wandert sein Blick hinab zum Boden, wo er etwas oder jemanden zu suchen scheint.
Seine Taille ist in schweren braunen Fellen gehüllt. Eisenbeschlagene Arm- und Beinschienen schützen ihn nur leicht. Sein Oberkörper ist fast zur Gänze bar, sodass die schwarzen Hautverzierungen deutlich zu sehen sind. Sie bilden ein symmetrisches, gezacktes Muster, aber keine wirkliche Gestalt. Um seine Brust schlingen sich die Lederriemen seines Reisegepäcks, welches sackförmig auf den Rücken geschnallt ist. Sie nickt mehrere Male und tritt mit leicht gesenktem Haupt zurück, während sich ihre Hände von ihm lösen und über seine Schultern, Arme und schlussendlich den zupackenden Händen ihres Gefährten, welche sie nicht zu halten vermögen, wandern lässt und vom blauen Stoff ihres Gewandes bedeckt werden. Das fast robenartige Kleid, scheint für eine Norn fast schon züchtig zu sein. Nur ein weiter, mit Pelz gesäumter Ausschnitt könnte den einen oder anderen Blick auf sich ziehen. Um ihren Hals trägt sie ein Band mit einer hölzernen Figur. Fein und säuberlich wurde das Stück eines starken Baumes geschnitzt und in die Form eines kräftigen Bärenkopfes gebracht, welcher sein Maul zum Brüllen geöffnet hat. An ihrem Gürtel trägt sie vier graue Kordeln, von denen sich zwei über ihre Vorder-, zwei auf der Rückseite befinden. An ihren Enden befinden sich runenverzierte, kupferfarbene Scheiben. Nur eine trägt stattdessen einen Schlüssel, der zu groß scheint um in ein Schloss zu passen.
"Wenn ich zurückkehre, feiern wir ein großes Fest! Und ich werde euch vieles mitbringen, dass ich auf meiner Jagd für euch erbeute." Er beginnt ein wenig zu lachen, als könne er die Reise kaum abwarten. Dann treffen seine Blicke die Gestalt, welche er mehr in Bodenrichtung gesucht hatte. Das kleine Mädchen sieht fragend zum Riesen auf, der noch gerade die Frau geküsst hatte, an deren Rockzipfel sie sich mit der linken Hand festhielt. Die Finger der rechten Hand zupften an den spröden Lippen. Sie schien ein kleineres Spiegelbild ihrer Mutter zu sein. Wie ihr Mutter hatte sie das lange blonde Haar zu einem Zopf geflochten. Sie trägt ein Braunes Kleid aus Leinstoff und mit Pelzen gefütterte Stiefelchen. Anders als ihre Mutter ließ sie sich jedoch vom Lächeln ihres Vaters anstecken und beginnt zu glucksen.
"Pass auf dich auf und betrete das Reich der Nebel nicht bevor deine Zeit gekommen ist. Sonst werde ich dich holen und das Gelage in den Hallen deiner Vorväter beenden!", begann sich nun auch das Nornweib zu erwärmen und förmt ihre Gesichtszüge zu einem leichten Lächeln. Dies schien ihn zu berühren und er tritt noch einmal einen Schritt nach vorn, wobei er seine linke Hand ausstreckt um dem Mädchen das hinauf grinste fürsorglich über den Kopf zu streicheln. "Das wird nicht geschehen. Denn die Geister werden es nie zulassen. Nichts kann mich daran hindern euch wiederzusehen - nichts auf dieser Welt." Sie lauschte den Worten ihrer großen Liebe und griff mit ihrer linken Hand nach dem hölzernen Raben, welcher sich an einer Schnur um den Hals des Mannes befand. Das filigran gearbeitete Tier aus weichem Holz wurde angehoben und mit den Lippen berührt, ganz so als wolle sie den Tiergeist selbst küssen: "Der Rabe möge seinen wachsamen Blick auf dich legen."
Mit weit geöffneten Mund zieht sie Luft in die Lungenflügel und reißt die blauen Augen auf. Ein schreckhafter Ruck hatte sie aus der Besinnungslosigkeit gezogen. Mit schnellem Atem lässt das Nornweib ihre Blicke kreisen. Es ist dunkel und kalt. Die Klippe an welcher sie hinabstieg, ist nun eine große schwarze Wand an deren Fuß sie tief in den Schnee eingesunken war. Der Sturz war hart gewesen. Der Schmerz im Körper beginnt seinen Weg zum Hirn zu finden. Nach und nach treffen die Signale ein, die von Schmerzen am Rücken berichten. Insbesondere ihr rechtes Bein schien förmlich zu brennen. Sogleich sieht die Norn an sich hinab, doch der Schnee hat sich wie eine kalte Bettdecke um sie legt. Es war Nacht geworden, die Sterne schienen Wege für ihren Glanz durch die Wolkendecke zu suchen. Viele Minuten hatte die Frau im Schnee gelegen und geträumt. Hätte sie sich nicht selbst aus dem Schlaf gerissen, die Norn, wäre wohl noch immer in den Träumen ihrer Vergangenheit. Schon lange Zeit hat sie nicht mehr daran gedacht. Umso verwunderlicher ist es für sie, dass ihr jene Erinnerungen im Schlaf erschienen waren, aus dem so manch ein Reisender niemals mehr erwacht ist.
Mit den Händen beginnt sie sich frei zu schaufeln. Ihre Beine kann sie nicht bewegen, wohl aber ihren Schmerz spüren, der ihr bezeugt, dass sie beim Sturz nicht an einem Felsen von ihrem Körper gerissen wurden. Keuchend verschnauft sie und atmet tief Luft. Es ist schwierig für sie sich aus dem Schnee zu befreien und Beine mit Rocksaum aus der weißen Umklammerung zu ziehen. Auf dem Bauch robbend bewegt sie sich etwas weiter über die verschneite Ebene um sich aufzusetzen. Die Hände beginnen abtastend. über ihre Ausrüstung zu wandern. Trotz der Kälte hat sich Schweiß auf ihre Haut gelegt, welcher nur dank ihrer Körperwärme nicht zu Eiskristallen gefriert. Die Axt ist noch immer am Rücken festgebunden. Das Jagdmesser befindet sich in der ledernen Scheide am Gurt. Selbst das in Leintuch gewickelte sichelmondförmige Objekt schien unversehrt zu sein. Doch plötzlich langt sie mit der rechten Hand zu ihrer Lederkordel am Rock um nach dem gefangenen Holzraben zu greifen, welcher aus hellem Holz geschnitzt wurde. Der Schreck hält an, auch nachdem sie die Schwingen der Figur zwischen ihren Fingern spürt. Sogleich wandet die rechte Hand über ihren Hals. Dann erst folgt ein erleichtertes Seufzen. Auch das pfeilförmige aus Knochen geschnitzte Amulett war erhalten geblieben.
Es dauert einige Minuten bis das Weib Kraft gesammelt hat um die Reise fort zu setzen. Wie auf der Jagd robbt die große Frau durch den Schnee und zieht ihre schmerzerfüllten Beine hinter sich her. Sie kommt kaum voran und jeder Meter den sie bewältigt stellt ihren Willen auf die Probe, um die Anstrengung nicht wegen einer Pause zu unterbrechen. Vor ihr liegen weiße Weiten. Irgendwann würde das Tal schon enden. Wie lange es jedoch dauert, bleibt ungewiss. Weicher Schnee gibt unter den fröstelnden Fingern nach. Die Kleidung der Norn ist zur Gänze mit Schnee bedeckt. Und es wirkt fast so, als würde sie durch ein weißes Meer schwimmen.
Doch plötzlich ertasten ihre Finger etwas hartes im weißen Schnee. Vermutlich ist es nur ein weiterer Stein. Sie schiebt sich weiter, doch mit jedem Meter den sie sich durch den Schnee bahnt, schwindet das weiche Bett mehr und gibt eine härtere Fläche preis. Es scheint sich wie Felsen anzufühlen. Doch das nun einsetzende Knarren und grollen zeugt von der Lebendigkeit eines Gewässers, dass sich unter ihr erstreckt. Die Mundwinkel heben sie und erschöpft lächelt die Norn. Als hätte sie ihr Ziel erreicht, gönnt sie sich etwas Ruhe und setzt sich auf, um nicht der Versuchung zu erliegen ihrer Müdigkeit nachzugeben. Die Knochen schmerzten. Sie blickt zurück in die Richtung aus der sie gekommen ist. Eine wüste Spur hatte sie unterlassen, welcher selbst ein Blinder zu folgen im Stande war. Die Klippe von der sie gestürzt war, ist im Schwarz der Nacht verschwunden. Stattdessen zeichnen sich vor ihr neue Bergspitzen ab. Sie sind spitz und schroff, wie Pfähle. Vor ihr scheint sich noch eine weite Ebene zu befinden. Womöglich hat sie gerade einmal das Ufer eines gewaltigen Sees erreicht.
Doch der stark abgeflaute Wind trug ein wohl bekanntes Geräusch in ihre Ohren. Etwas das nicht zu einem Gletschersee passt. Sie holt tief Luft und setzt ihren Weg fort. Erstaunlich schnell kommt sie voran. Die Berge rücken immer näher, ganz so als würde sie über das Eis fliegen. Und dann bricht das Licht der Sterne durch die Wolkendecke und erhellt die Umgebung vor ihr in einem bläulichen Licht. Nicht die Gipfel der Berge kamen ihr entgegen, sondern die Wipfel der Bäume. Das Geräusch was sie hörte war das Rauschen des Windes, der sich durch die säulenbebauten Hallen eines Waldes drängt und die Äste vorsichtig hin und her wiegt. Abermals lächelt sie als sie die Bäume erkennt. Auf den Unterarmen abstützend und jene als Beine missbrauchend, kämpft sie sich weiter durch den Schnee über das Eis. Die Schmerzen sind längst der Freude über das möglicherweise baldige Erreichen ihres Ziels gewichen. Die Kälte hat die Fingerglieder längst betäubt. Und vielleicht wird sie dies auch bald mit den Gedanken der Norn, in welche sie erneut zu fallen droht. Obgleich ihrer Vorfreude zittern ihre Lippen, welche flüsternd und erschöpft die Worte in ihren Gedanken widerspiegelt. Die Bewegungen werden langsamer je mehr die Kälte Besitz von ihrem Körper und der Traum ihr von Bewusstsein ergreift.
Bald findet sie sich in der warmen Geborgenheit einer Hütte wieder. Ein warmes Feuer verschlingt an einer Feuerstelle hungrig hölzerne Nahrung. "Wann wird Vater wieder zurückkehren?", fragt das Mädchen und sieht zu ihrer Mutter hinauf. Sie blickt geistesabwesend zu ihrer Tochter hinunter. Es dauert einen Moment bis die Nornfrau sich besinnen kann und mit einem aufgesetzten Lächeln, aber mit Wehmut in der Stimme antwortet: "Wenn der Winter dem Frühling weicht."
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