Was als wohltuender Schauer begann, entpuppte sich bald als waschechter Sturm. Es war keiner dieser Wetterumschwünge, die sich mit eingezogenem Kopf schon irgendwie aussitzen ließen. Nein, dieser hier gehörte vielmehr zu der Sorte, die den eigenen Überlebenswillen gnadenlos auf die Probe stellen. Ein Orkan, der selbst dann Anlass zur Sorge gegeben hätte, wenn man sich nicht gerade an Bord einer schäbigen Brigg auf tosender See befinden würde. Mit einem Kapitän, der eine Flasche sicherer in der Hand zu führen wusste als das verdammte Steuerrad, und einer ..-
Das ohrenbetäubende Donnern der nächsten Welle riss ihn aus seinen Gedanken und konfrontierte ihn geradezu höhnisch mit der bitteren Wirklichkeit. Und es sorgte dafür, dass sich sein Griff um das herabhängende Tau instinktiv festigte. Im schummrigen Halbdunkel des wankenden Schiffsbauches, zwischen gefährlich aufgetürmten Kisten und Fässern, hatte er nicht die leiseste Ahnung, warum er sich überhaupt zu dieser Fahrt hat hinreißen lassen. Auf den vom spärlichen Laternenschein beleuchteten Gesichtern der anderen Expeditionsmitglieder, die, genau wie er selbst, hier unten zum Ausharren verdammt waren, spiegelte sich dieser Selbstzweifel nur allzu deutlich wider. Bisher hatten ihm sowohl die Zeit als auch der Antrieb gefehlt, seine Mannschaft näher kennenzulernen, aber bei den meisten dieser krummen Gesellen war das auch nicht weiter bedauerlich. Was er hingegen ausdrücklich bereute, war die Entscheidung, den Platz direkt neben der schmalen Holztreppe zum Deck zu beanspruchen. Die Idee, nur wenige Schritte zurücklegen zu müssen, sollte es ihn einmal nach Frischluft verlangen, erschien ihm zu Beginn der Reise als ein ziemlich cleverer Schachzug. Nun jedoch, wo der Sturm und die aufbrausenden Wellen in gewisser Regelmäßigkeit das kühle Nass über das Deck und durch die löchrige Luke bis zu ihm hinunter trugen, war er sich da nicht mehr ganz so sicher. Sollte diese seeuntüchtige Nussschale tatsächlich den Naturgewalten unterliegen, so zog er nüchtern Bilanz, wäre sich hier wohl jeder selbst der Nächste – und er damit auf sich allein gestellt.
„Mach nicht so ein langes Gesicht, Bruderherz. Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden, hm?“
Nein, nicht ganz allein. Daran erinnerte ihn die wohlbekannte Stimme, deren hellen Klang er selbst hier, unter dem Getöse der Wassermassen und dem unablässigen Matrosengeschrei auf dem Deck über ihnen, genau zuzuordnen wusste. Sie gehörte der jungen Frau neben ihm, die sich mit ihrem langen, blonden Haar, den feinen Gesichtszügen und dem schelmischen Lächeln so gänzlich vom Rest der Mannschaft abhob. Es war ihre entwaffnende Herzlichkeit, mit der sie ihm seit jeher, vor allem aber im Verlaufe des letzten Jahres, eine wertvolle Stütze gewesen ist. Und obwohl sie ihn auch dieses Mal damit aufzumuntern versuchte, schmerzten ihre Worte – denn sie hatte Recht. Wie bei einer schlecht verheilten Wunde, die bei einer falscher Bewegung wieder aufzubrechen droht, förderte sie damit Erinnerungen zutage, die er eigentlich schon sicher weggeschlossen wähnte. Erinnerungen, die schließlich eine Erkenntnis brachten, die ihn weitaus mehr aufwühlte, als er äußerlich erkennen ließ: Seine Schwester war alles, was ihm noch blieb. Und selbst der leiseste Gedanke, den liebenswerten Blondschopf auch zu verlieren, war für ihn unerträglich.
Noch bevor er überhaupt zu einer Antwort ansetzen konnte, drangen laute Rufe und der dumpfe Widerhall hektischer Schritte vom oberen Deck aus nach unten. Zwar war das Treiben dort oben schon seit Beginn des Sturmes unüberhörbar, doch mischte sich nun eine regelrecht verzweifelte Note in das Geschrei der Matrosen. Eine Note, die einen so abrupten Stimmungswechsel zeichnete, dass sie ihn unweigerlich aufhorchen und schon kurz darauf einen Entschluss fassen ließ. Lange genug hatte er hier unten ausgeharrt und sich der Untätigkeit hingegeben. Wenn es eine Chance gab, diesen Kahn zu retten, und sei sie auch noch so verschwindend gering, dann würde er seinen Beitrag leisten. Und natürlich durchschaute Lyra sein Vorhaben, noch bevor er sich überhaupt in Bewegung setzte. Doch anstatt dem stillen Protest nachzugeben, mit dem sie seitlich zu ihm aufschaute, löste er sich aus der haltsuchenden Umschlingung ihrer Arme und reichte ihr das herabhängende Tau. Als hätte die tückische See nur auf diesen Moment gelauert, brachte sie das Schiff plötzlich in Schlagseite – und ließ ihn unsanft auf die nahe Holztreppe zustürzen. Auch die Kisten und Fässer konnten sich der Schwerkraft nicht entziehen und bahnten sich rumpelnd ihren Weg über den hölzernen Dielenboden. Die aufgebrachte Geräuschkulisse fand ihren vorläufigen Höhepunkt in einem schmerzerfüllten Aufschrei auf der anderen Seite des schummrigen Schiffsbauches. Der Sturm nahm Fahrt auf, das stand außer Frage. Arondal warf einen letzten Blick zurück, hinüber zu seiner Schwester, die sich vehement im baumelnden Tau verkrallte. Das nahende Donnern der nächsten Welle verschluckte jede noch so laute Silbe, und so war ein kleines Nicken in zurückhaltender Zuversicht die einzige Antwort, die sie ihm mit auf den Weg gab. Als er sich daraufhin umwandte und die hölzernen Stufen erklomm, überkamen ihn jedoch leise Zweifel. Er war weder gelernter Steuermann, noch war er anderweitig im Segeln bewandert. Wie würde er dort oben helfen wollen? Könnte er überhaupt helfen? Die Wucht, mit der die Welle auf den Schiffsrumpf brandete, schleuderte seine Zweifel hinfort – und ihn beinahe von den Treppenstufen. Nein, vielleicht könnte er an Deck nicht viel beisteuern. Aber er würde es um jeden Preis versuchen. Das war er ihr schuldig.
Es kostete ihn einiges an Anstrengung, die schwere Luke hochzudrücken. Sie widersetzte sich so beharrlich diesem Versuch, dass man ihr fast hätte unterstellen können, sie würde den Blonden auf die vermeintliche Sicherheit des Schiffsbauches aufmerksam machen wollen. Und tatsächlich: Kaum hatte er das hölzerne Ärgernis hochgewuchtet, umfing ihn Chaos. Chaos, das zuvor lediglich als dumpfe Laute zu ihm vorgedrungen war und nun, da er sich selbst in dessen Mitte wiederfand, umso verheerender erschien. Matrosen, klitschnass und von der Erschöpfung gezeichnet, rannten über das nasse Deck, brüllten Befehle und Obszönitäten in den heulenden Wind und versuchten mit zunehmender Verzweiflung, die Takelage der kleinen Brigg im Zaum zu halten. Für den Orkan jedoch war das Schiff nichts weiter als ein Spielball, den er, allen Bemühungen der Mannschaft zum Trotze, nach Belieben auf der unruhigen See herumwirbeln konnte. Das war sicherlich keine ermutigende Aussicht, aber für eine solche war er auch nicht hier hinauf gekommen. Er wollte mit anpacken, gerade weil er sich des Ernstes der Lage bewusst war. Nun jedoch, wo der Sturm so unerbittlich an ihm zerrte und es ihm schwermachte, auf dem wankenden Deck auch nur das Gleichgewicht zu halten, überdachte er seine Entscheidung noch einmal. Sein Blick ging dabei hinüber zur Reling, an der ein junger Matrose wild gestikulierend auf den Horizont deutete. Arondal suchte Halt am nahen Schiffsmast und spähte aus zusammengekniffenen Augen und umherwirbelnden Haarsträhnen in die grauverhangene Ferne. Es dauerte eine Weile, bis er überhaupt etwas hinter den meterhohen Wellen erkennen konnte, doch als es schließlich soweit war, ging ein Ruck durch seinen Körper. Steile Klippen zeichneten sich schemenhaft am Horizont. Klippen, die, so meinte er zu erkennen, von kleineren Stränden unterbrochen wurden. Und sie waren gar nicht mal so weit entfernt. Wenn sie es bis dorthin schaffen würden ..
Der Matrose, eben noch an der Reling, eilte nun zum Steuerstand empor, um seine Entdeckung mit der Person zu teilen, die damit am ehesten etwas anzufangen wusste. Auf anderen Schiffen war das für gewöhnlich der Kapitän. Auf diesem Kahn war sich Arondal jedoch nicht so sicher. Dort oben am Steuerrad stand nämlich ein hagerer, glatzköpfiger Kerl, der dem Chaos an Deck und dem Sturm um ihn herum so gar nichts abgewinnen konnte. Ganz im Gegenteil: Mit nur einer Hand am Steuerrad und der teilnahmslosen Miene vermittelte der Filzbart eine so penetrant stoische Ruhe, wie sie nur ein hartgesottener Seemann glaubwürdig zur Schau stellen könnte. Oder aber ein hackenstrammer Säufer. Die leere Flasche in seiner anderen Hand machte schnell und unmissverständlich klar, in welche der beiden Schubladen man diesen Kerl einzuordnen hatte. Und so verwunderte es auch nicht weiter, dass er der Mitteilung des Matrosen so viel Aufmerksamkeit widmete, wie man es von einem Mann seines Schlages erwarten würde – nämlich gar keine. Anstatt Befehle zu brüllen und Kurs gen Land zu setzen, entstieg seiner Kehle nur ein trockenes Würgen, als sich das Schiff im Seegang mal wieder gefährlich neigte. Oh, wenn sie es jemals heile an Land schaffen sollten, würde er diesen Schluckspecht so lange mit seiner eigenen Rumflasche verprügeln, dass er seinen Lebtag nicht mehr ..-
„Arondal!“
Die helle Stimme hinter ihm wurde beinahe vollständig vom Sturm verschluckt, und dennoch wusste er sofort, zu wem sie gehörte. Er zog die salzige Seeluft scharf ein und wandte sich um. Lange, blonde Haarsträhnen peitschten im Wind und umspielten ein Gesicht voller Sorge, das ihm aus der Luke heraus entgegen blinzelte.
Dieser Anblick sollte sich auf ewig in sein Gedächtnis brennen.
Er wollte sie zurück ins Innere beordern, dorthin, wo er glaubte, sie in Sicherheit zu wissen, als das Schiff plötzlich starke Schlagseite bekam und es ihn beinahe von den Füßen riss. Nach langem Kampf hatten die Matrosen die Kontrolle über die sturmgepeitschte Takelage schlussendlich verloren, und nun drückten die ungebändigten Segel den Zweimaster erbarmungslos in die Schräglage. Und wenn auf dem Deck bisher Chaos geherrscht hat, so brach nun die Hölle aus. Der glatzköpfige Kapitän, entgegen aller Seemannstraditionen, ging dabei als erster von Bord. Die Schlagseite reichte aus, um den Gleichgewichtssinn des schwankenden Taugenichts endgültig außer Kraft zu setzen und ihn kotzend über die Reling fallen zu lassen. Derweil trug der Sturm die panischen Schreie der Matrosen über das Deck. Einige von ihnen schafften es, sich verzweifelt an die Taue, Schoten oder die Reling zu klammern – andere hatten weitaus weniger Glück. Auch Arondal verkrallte sich mit beiden Händen am Schiffsmast, denn den festen Stand unter den Stiefeln hatte er mittlerweile verloren. Der schneidende Wind zerrte an seinem Körper, wischte den unflätigen Fluch von seinen Lippen und ließ den verkrampften Griff mit jedem Atemzug ein wenig schwächer werden. Aus zusammengekniffenen Augen warf er einen flüchtigen Blick hinüber zur Luke.
Lange, blonde Haarsträhnen peitschten im Wind und umspielten ein Gesicht voller Sorge.
Mit dem nächsten Wimpernschlag war es verschwunden. Angsterfüllte Schreie drangen aus der Öffnung nach oben und ließen den Tumult im Inneren nur erahnen. Dann brachte ein laute Explosion im Schiffsrumpf die tosende See für einige Sekunden zum Schweigen. Die Stoßwellen fuhren durch seinen Körper, seine Glieder, und ließen seine Finger über das feuchte Holz des Mastes rutschen. Mit einem trotzigen Knurren zwischen zusammengepressten Zähnen machte er seinem Ärger Luft – doch schlussendlich gaben seine Hände der Erschöpfung nach. Er verlor den Halt. Rücklings über das abfallende Deck stürzend, fing die Reling seinen Körper unsanft auf. Er wollte schreien, seiner Frustration eine Stimme geben, doch es kam nicht mehr als ein flaches Keuchen über seine Lippen, als der wuchtige Aufprall ihm die Luft aus den Lungen trieb. Unter einem benommenen Blinzeln schlug er die Augen auf. Pochender Schmerz hüllte das Deck in einen mattglasigen Schleier und verlieh der gesamten Geräuschkulisse einen dumpfen, leiser werdenden Hall. Wieder blinzelte er und rang um klare Gedanken. Während er sich mit letzter Kraft der Bewusstlosigkeit entgegenstemmte, begann das Schiff allmählich zu sinken. Der Sturm hatte die manövrierunfähige Brigg mittlerweile in greifbare Nähe zur Küste getrieben. Ein glücklicher Umstand, der von Arondal jedoch vollkommen unbemerkt blieb. Er hob den verschwommenen Blick ein letztes Mal zur Luke hinauf. Wassertropfen benetzten seinen Nacken.
Und bevor ihn die Dunkelheit vollständig umfing, sah er es.
Lange, blonde Haarsträhnen peitschten im Wind und umspielten ein Gesicht voller Sorge.
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