Jagdgeschichten

Wie Nahri zum Raben kam... oder war es andersrum?


... Es ist schon einige Götterläufe her, zu der Zeit, als sie mit ihren Eltern noch im Königintal wohnte. Nahri zählte wohl 9 Winter oder nur etwas mehr. Viele glückliche Stunden verbrachte sie im Wald um Tonteich herum. Fast kannte das Mädchen jeden Stein, jeden Baum, die kleineren Höhlen im Erdreich, den See und den dazugehörigen Wasserfall. Sie genoß ihre Freiheit und liebte es einfach den ganzen Tag durchs Unterholz zu streifen, um Abends voll mit Erde und verdorrten Blättern im wilden Haar nach Haus, zurück in die kleine Hütte der Familie zu kommen. Nicht selten erntete sie dort das Gelächter des Vaters und die Schelte ihrer Ma.


Der Vater verdiente sich sein Ansehen im Dorf, und das, was sie zum Leben brauchten, als Jäger. Doch wenn es dem Winter zuging auch als Holzfäller. Nahri bewunderte ihn. Für sie war er der beste Bogenschütze und stärkste Mann ihrer ganzen kleinen Welt. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, das sie sein Handwerk lernen und ebenfalls eine Jägerin werden wollte. Er selbst war allerdings der Meinung, das Mädchen sei noch zu jung um ihn auf seiner Jagd zu begleiten. Zwar lehrte er seiner Tochter spielerisch einiges darüber, erklärte ihr, wie man einen Bogen hält und den Pfeil abschießt, ließ sie es sogar selbst versuchen. Was man beachten mußte, wenn man sich an eine Beute heran pirschte und wie man mit dem Wind jagte. Doch begleiten durfte sie ihn nicht.
"Viel zu gefährlich für so eine kleine Göre" murmelte er jedes mal schmunzelnd, wenn sie ihren Vater anbettelte, das er sie doch mitnimmt. Statt dessen sollte sie der Mutter lieber am Herdfeuer helfen, oder am Fluß die Laken und Hemden waschen, wie es sich für ein braves Mädchen gehört.
Schmollend wandte sie sich dann jedes mal ab und lief trotzig aus der kleinen Hütte. Doch nur um sich hinter den nächsten Holzscheiten zu verstecken und darauf zu warten, das ihr Paps heraus kam, den Bogen auf dem Rücken und das Jagdmesser an der Seite. Manchmal war Nahri ihm auf diesem Wege gefolgt, wenigstens soweit sie sich in den Wald hinein traute. Immer ein Stück zurück bleibend und sich hinter den Bäumen verbergend. Doch ließ sie ihn dabei nie aus den Augen. Sie hatte beobachtet wie er seine Beute betrachtete. Wie er seinen Bogen spannte, den Wind abschätzte, bevor er den Pfeil auflegte und ihn abschoß. Es schien ihr bei jeder Beobachtung einfacher vorzukommen. Konnte doch nicht schwer sein, den Pfeil einfach im richtigen Augenblick los zu lassen und auch noch was zu treffen!


Und eines Tages sollte sie sich endlich selbst darin versuchen...
Der Vater war krank und mußte von seiner Frau schon einige Tage im Bett mit kalten Wadenwickeln gepflegt werden. Andere Männer der Gemeinde gingen zwar für ihn auf die Jagd und teilten nicht selten die Beute mit der kleinen Familie, doch Nahri gab sich damit nicht zufrieden. Sie war der Meinung, das es nun ihre Aufgabe sein, für den Vater einzuspringen um das ganze Dorf mit Fleisch zu versorgen.
In einem unbeobachteten Moment also, als die Frau ihrem Mann gerade etwas heiße Brühe einflößte, stahl sich das Mädchen davon. Der Bogen des Vaters stand stets an der Wand neben der Tür angelehnt, in grobes Leinen geschlungen, den Köcher neben sich. Sie schnappte sich das schlichte Holz, an dem an einem Ende die Sehne hing, zog nur drei Pfeile aus dem Köcher, da sie das große ledernde Behältnis ja doch nicht weit hätte tragen können, und schlich hinaus ins Freie.
Es war wohl um die Mittagszeit. Die Wege zwischen den Hütten waren leer und aus den Schornsteinen qualm Rauch, was vermuten ließ, das einige Feuer in den Kaminen brannten. Sogar auf dem Übungsplatz der Miliz herrschte nur ein träger Betrieb. Kaum eine Hand voll Soldaten stand an einen Zaun gelehnt, andere Menschen sah sie nicht. Sicheren Schrittes durchquerte Nahri das Dorf, als würde sie doch jeden Tag mit einem für sie viel zu großem Bogen über die Wege gehen, lief durchs offene Tor der Mauer, die Tonteich umrahmte, folgte dem Weg noch ein Stück, bevor sie endlich in den Wald abbog und langsamer wurde.


Wie sie es bei ihrem Vater gesehen hatte sah sie sich im Wald um. Blieb stehen, wenn sie es rascheln hörte und beobachtete die Vögel, die in den Baumwipfeln saßen oder keck von einem Zweig zum nächsten hüpften und ihren zwitschernden Gesang hören ließen.
Sie pirschte gerade durchs Unterholz, da bemerkte sie auf einer kleinen Lichtung ein Reh, das in der Mittagssonne äste. Doch da ein Stück weit von ihm entfernt ein paar hellbraune Ohrenspitzen aus dem hohen Gras ragten, und sich das Tier ständig in diese Richtung umsah um zu wittern, während es kaute, wußte Nahri, das dort ein Kitz lag und sie dieses Reh nicht als Beute ansehen durfte. Soviel hatte ihr Vater sie gelehrt, in den vielen Geschichten am Abend, während er seinen Bogen gepflegt oder seine langstielige Pfeife geraucht hatte.
"... Achte darauf, das sich deine Beute nicht um ein Jungtier kümmern muß. Die Waisen können nur selten allein überleben. Jedoch sichern sie den Bestand in unserem Wald. Jage immer nur so viel, wie wirklich nötig ist, um ab und an mal einen Bissen Fleisch in den Bauch zu bekommen! ..." Dabei hob er oft belehrend den Finger, um ihn kurz darauf sacht in den Bauch der Tochter zu picksen und sie dabei anzulächeln.
Nahri beobachtete die Ricke noch eine ganze Weile, bevor sie sich doch irgendwann leise zurück zog und den Tieren ihrer Ruhe überlies. Es gab ja noch weitere Lichtungen, vielleicht würde sie auf der ein oder anderen ihre Beute finden, die sie dann mit Stolz erhobenen Hauptes nach Haus tragen könnte.


Das Mädchen geriet gar nicht so viel tiefer in den Wald, bis sie zwischen den Bäumen ein weiteres Reh fand. Leise verlangsamte Nahri ihre Schritte, pirschte sich näher an das Tier heran und beobachtete es. Scheinbar war dieses allein, ohne ein Kitz, zumindest konnte sie keine Anzeichen dafür erkennen.Sie erinnerte sich daran, was ihr Vater getan hatte, bevor er einen Pfeil auf die Sehne legte. Das Mädchen blickte nach oben, betrachtete die Blätter und prüfte den Wind. Er stand wohl günstig, ihr Geruch würde nicht zu dem Reh gelangen und der Pfeil gerade fliegen, ohne abgelenkt zu werden. Als nächstes mußte der Bogen gespannt werden. Oder kam das bevor man den Wind prüfen sollte? 'Egal.'
Nahri stellte ein Bein über den Bogen und versuchte ihn zu biegen um die Sehne zu spannen. Alle Kraft legte sie in den oberen Arm des Holzes, doch es bog sich nicht genug, um die Sehne an die richtige Stelle zu bringen. Ächzend ließ sie den Bogen los und stampfte verärgert mit dem Fuß auf den Waldboden. Genau in dem Moment erschrak das Reh, richtete ruckartig den Kopf auf und sprang einige Schritte voran, bevor es in ihre Richtung sah und die Ohren zucken ließ, um die Quelle des Geräusches auszumachen. Das Mädchen weitete die Augen, hielt die Luft an und wartete stocksteif stehend ab, bis sich das Tier beruhigt hatte und nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, den schlanken Kopf wieder senkte um sich abermals dem frischen Gras zwischen dem trockenen Laub zu widmen.
Unsicher betrachtete sie den Bogen, der in ungespannter Form fast schon ihre Größe überragte. Ein weiterer Versuch die Sehne an ihren Platz zu bringen schlug ebenfalls fehl. Scheinbar hatte sie nicht genug Kraft dieses Ding zu spannen, so wie es ihr Vater tat. Sie blickt umher und überlegte, wie sie es doch noch schaffen könnte. In ihrer Nähe lagen einige umgefallene Bäume, die wohl alt waren oder einem der letzten Herbststürme nicht stand gehalten hatten. Langsam drehte sich Nahri wieder zu dem Reh herum, um sich zu vergewissern, das es nun wieder friedlich äste, bevor sie sich geduckt und leise zu den Stämmen auf machte.


Es dauerte eine ganze Weile, aber irgendwie hatte sie es geschafft einen Bogenarm zwischen den Baumstämmen einzuklemmen, so das sie den anderen mit beiden Armen, ihr ganzes Gewicht daran hängend, herunter ziehen konnte, um die Sehne endlich an die richtigen Stelle zu drücken und den Bogen auf diese Weise zu spannen. Stolz, aber vor Anstrengung um Atem ringend, hielt sie die Waffe vor sich in die Luft. Betrachtete sie, bevor das Mädchen, so wie ihr Vater immer, prüfend an der Sehne zog. Natürlich konnte sie nicht genug Kraft aufwenden, um die Sehne weit zu ziehen. Doch sie fand es würde schon reichen, nahm die drei Pfeile wieder auf, die sie auf dem Waldboden abgelegt hatte, und pirschte langsam zurück an den Ort, an dem sie das Reh zuletzt gesehen hatte. Es stand nur ein paar Schritte weiter weg als zuvor.


Vorsichtig ging sie in die Hocke und legte die Pfeile neben sich auf dem Boden ab. Behielt jedoch einen in ihrer Hand um ihn an die Sehne zu legen. Ihre Augen fixierten konzentriert das Tier, als sie die rechte Hand mit den Fingern um den Schaft des Pfeiles und der Sehne, nach hinten zog, so sehr sie es vermochte. Ihr Arm zitterte vor Anstrengung und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse voller Anstrengung, als sie...
"KRAH!"
... vor Schreck die Sehne los ließ und sich mit weit aufgerissenen Augen straff aufrichtete. Der Pfeil landete mit einem leisen zirren nur ein paar wenige Schritt von ihr entfernt, und grub sich mit der Spitze voran schräg in den Waldboden.
"KRAH, KRAH!" Klang es wiederum laut und in dumpfem Ton über ihr. Nahri‘Shay hob den Kopf und blickte direkt in zwei schwarze Augen, rund wie kleine Murmeln.
"KRAH!" machte der Rabe erneut und legte den Kopf schief, als würde er das Mädchen neugierig betrachten.
"Ksssscht!" gab sie lauter zurück, als sie eigentlich wollte, und blickte den Vogel verärgert an. Wedelte mit einer Hand in seine Richtung, um ihn zu verscheuchen. Doch das Tier zeigte sich unbeeindruckt, hüpfte nur einen kurzen Sprung auf dem Zweig weiter, der dicht über ihr hing, und legte den Kopf in die andere Richtung. Das Mädchen atmete einmal tief durch, um ihren Schreck zu verdrängen. Schloß kurz die Augen und drehte sich wieder ihrer Beute zu, die natürlich nicht mehr zwischen den Bäumen stand. Vermutlich hatte sich selbst das Reh erschreckt und war ins dichtere Unterholz geflohen. Sie knirschte mit den Zähnen, blickte zurück zu dem Raben, der nun ebenfalls fort war, nahm ihre Pfeile auf um sich eine andere Beute zu suchen.


Lange mußte sie nicht im Wald umherstreifen. Zu dieser frühen Sommerszeit schienen sich die Tiere in der Nachmittagssonne ahlen zu wollen. Zwischen ein paar Baumstümpfen und Gestrüppen gleich in der Nähe entdeckte Nahri einen Hasen. Groß war er und für ihr Verständnis recht fett, so das er ganz bestimmt ein gutes Mahl abgeben würde. Der Bogen war noch immer gespannt, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht die Sehne wieder zu lösen, damit sie schneller schußbereit sein würde. Vorsichtig legte sie, wie schon zuvor bei dem Reh, einen Pfeil auf und hielt den Bogen dabei leicht schräg. Sie ging etwas in die Hocke und zog die Sehne, wiederum mit größter Anstrengung, so sehr sie es vermochte.
'Zirrrrr' ließ Nahri den Pfeil los, der einige Schritt weit in einem sachten Bogen flog. Doch lang nicht weit genug um den Hasen zu treffen, der sich schleunigst aus dem Staub machte, als der Pfeil in seiner Nähe schräg im dichten Laub stecken blieb. Das Mädchen betrachtete abwechselnd den Bogen und ihren abgeschossenen Pfeil. Prüfend zog sie erneut an der Sehen, ohne einen weiteren Schaft aufgelegt zu haben, und versuchte sie noch stärker zu spannen. Sie zielte in die gleiche Richtung, in der sie vorher geschossen hatte, und ließ die Sehne verdutzt wieder los. Neben dem Pfeil saß ein Rabe. Es war wohl der gleiche wie zuvor - nahm sie zumindest an. Schweigend betrachtete Nahri‘Shay das Tier, wie es an dem Schaft pickte und ihn gar zwischen den Schnabel nahm, als wolle es ihn heraus ziehen. Als der Vogel sich jedoch von dem Pfeil abwand und das Mädchen erblickte, ließ er ein schnarrendes Krächzen hören, breitete die schwarzen Schwingen aus und erhob sich mit einem eleganten Hopser in die Luft um davon zu fliegen.Nahri hob die Augenbrauen und blickte ihm verwundert nach.
Kopfschüttelnd ging sie zu dem Pfeil und zog ihn aus dem Boden, betrachtete ihn in den kleinen Händen wiegend. Es hatte wohl keinen Sinn nach einer weiteren Beute zu suchen. Für heute war ihre Lust auf die Jagd vergangen. Sicherlich war sie auch schon einige Stunden unterwegs und irgendwann würde die Mutter ihre Tochter vermissen. Noch dazu mußte Nahri überlegen, wie sie Bogen und Pfeile unbemerkt zurück bringen könnte. Da sie ja keine Beute gemacht hatte wollte sie auch nicht, das ihr Vater von ihren ersten Versuchen erfuhr.


Der Weg zurück nach Tonteich verlief relativ ruhig. Ein paar mal noch sah sie einen Raben - es gab sicher mehrere davon in diesem Wald. Doch heute fiel ihr dieser Vogel besonders oft auf. Wann immer sie das dumpfe Krächzen hörte blickte sie gedankenverloren auf, erspähte das schwarze Gefieder. Meist auf einem Ast in ihrer Nähe sitzend, den Kopf schräg gestellt und die Augen auf sie gerichtet. Doch kurz bevor sie das Dorf erreichte sah sie das Tier zum letzten mal an diesem Tag.


Innerhalb der Mauern ging es geschäftiger zu als in der Stunde ihres Aufbruches. Auf dem Übungsplatz standen mehrere Kämpfer, die mit dem Schwert oder Bogen übten. Einwohner, wie auch Reisende standen bei den wenigen Händlern, an der Schmiede oder an den Zäunen der Pferche. Sogar ihre Mutter erblickte das Mädchen, sich mit einem Nachbarn unterhaltend, einen vollen Korb mit Wäsche unter dem Arm. Entweder kam sie gerade vom See oder wollte in den späten Nachmittagsstunden noch ein paar Laken waschen.
Nahri nutzte die Gelegenheit um nach Haus zu eilen, da der kranke Vater sicher schlafen würde und sie den Bogen somit unbemerkt an seinen Platz zurück stellen könnte. Das war ein guter Plan.
Allerdings schlief der Vater nicht. Schwach drehte er den Kopf auf seiner Bettstatt, die der Tür gegenüber lag, um zu sehen, wer dort hinein kam. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Tochter entdeckte. Das Mädchen war jedoch so sehr damit beschäftigt leise und unbemerkt in die Hütte zu schlüpfen, das sie es gar nicht bemerkte. Vorsichtig schloß sie die Tür und wickelte dann den Bogen in das Leinentuch, bevor sie die ausgeliehenen Pfeile zurück in den Köcher stopfen wollte.
"Na, hast du Beute gemacht, Kind?"
Nahri fuhr vor Schreck zusammen und drehte sich blitzschnell um. Dabei fiel ihr der letzte Pfeil aus der Hand, der mit holzernem Ton auf dem Boden landete.
"Nein, hast du wohl nicht..." Der Mann schloss die Augen und lächelte ihr verschmitzt entgegen. Seine Stimme klang rau.
"Wie, hast du denn gedacht, bringst du uns ein Reh oder gar einen erlegten Eber nach Hause? Meinst du, du hättest sie auf den Schultern tragen können, oder ihm Flügel auf den toten Leib zaubern können?" Er lachte freundlich, was jedoch in ein Husten umschlug und kurz darauf in rasselndem Atem endete. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Lunge wieder beruhigt hatte.
Das Mädchen senkte beschämt den Kopf. Daran hatte sie ja gar nicht gedacht. Ihr Paps hatte wohl recht, hätte sie ein Reh erlegt, hätte sie es wohl liegen lassen müssen... Aber...
"Da war doch ein fetter Hase..." antwortete sie schüchtern. "Fast hätte ich ihn getroffen, den hätte ich tragen können!" Diesen Satz sagte sie mit festerer Stimme und blickte den Mann mit überzeugten Augen an. Dieser lachte abermals, leise und vorsichtig, um nicht wieder mit einem Husten enden zu müssen.
"Sobald ich gesund bin werden wir dir einen eigenen Bogen bauen. Dann wirst du mit mir auf die Jagd kommen...Es wird Zeit..." Er drehte den Kopf auf die andere Seite, hustete ein weiteres mal, stöhnte kurz auf und sprach schwach weiter. "Doch nun lauf zu deiner Mutter und hilf ihr mit der Wäsche... Und erzähl ihr lieber nichts von deinem Ausflug..." Sein Atem wurde ruhiger und regelmäßig, er war wohl schon fast wieder eingeschlafen.
Überglücklich hob Nahri den letzten Pfeil vom Boden auf. Geschwind stopfte sie ihn in den Köcher, eilte hinaus und lief hinunter zum See, um gehorsam den Worten ihres Vaters zu folgen. Ihr Herz machte Freudensprünge und es war schwer der Ma nichts von ihrem Abenteuer zu erzählen.


Die Tage vergingen. Jeden Morgen kam das Mädchen an das Bett des Mannes um nachzuschauen, ob er schon wieder gesund genug war. Es dauerte noch einige Sonnenaufgänge, bevor sich eine Erholung bemerkbar machte, doch bald schon stand er wieder auf seinen Beinen. Auf die Jagd konnte er zwar noch nicht gehen, dennoch hielt er sein Versprechen. Zusammen gingen sie in den Wald, um das richtige Holz für einen neuen Bogen zu finden. Biegsam, stark aber nicht zu zäh, damit auch Nahri die nötige Kraft aufwenden könne, um ihn zu spannen. Einige Abende wurde der junge Ast bearbeitet, den sie gefunden hatten, um ihm die richtige Form zu geben. Eine Sehne wurde gefertigt, und sogar ein kleinerer Köcher, den das Mädchen überglücklich und stolz auf dem Rücken tragen konnte. Bevor der Vater endlich wieder genug Kraft hatte um jagen zu gehen, lehrte er Nahri den richtigen Umgang mit dem neuen Bogen, wie sie die Pfeile aus dem Köcher ziehen, sie auf die Sehne legen und zielen solle.


Eines Morgens weckte er seine Tochter in aller Frühe. Noch vor der Dämmerung. Die Mutter hatte schon eine Schüssel mit heißem Brei auf den Tisch gestellt. Ihr Blick verriet, das sie das Vorhaben ihres Mannes nicht gut hieß. Schweigend ließ sie ihre Familie frühstücken und schweigend gab sie beiden einen Kuss, bevor der Vater mit dem Mädchen hinaus trat, um auf die Jagd zu gehen.
In so früher Morgenstunde waren die Wege leer. Die Dämmerung hatte schon begonnen doch es regten sich nur die Tiere, die in der Nähe dösten oder mit leisen Geräuschen in ihren Pferchen nach Futterresten suchten. Die Wachen am Tor grüßten den Mann stumm, nur mit einem Kopfnicken, und lächelten dem Mädchen zu, als sie das Tor an der Mauer passierten. Direkt hinter der Mauer aber saß eine kleine schwarze Gestalt vor ihnen im Zwielicht auf dem Weg. Nahri erstarrte, erinnerte sich an ihren kleinen, abenteuerlichen Ausflug und den Raben, der sie so eindringlich beobachtet hatte. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie den Vogel an und ging keinen Schritt weiter. Verwirrt blieb auch der Vater stehen und blickte zu seiner Tochter zurück.
"Was ist denn los Nahri? Nun komm..."
"KRAH!" ließ der Rabe von sich hören, hob sich in die Luft und war verschwunden, bevor der Mann seinen Kopf dem schwarzen Vogel zuwenden konnte.Nahri blickte ihm eine kurze Weile nach, schüttelte dann energisch den Kopf und hüpfte ein paar Schritte voran, um wieder mit ihrem Vater aufzuschließen. Mit ihren kleinen Fingern griff sie fest nach seiner Hand. Noch einmal schaute sie sich um und spähte in die Luft, bevor sie zusammen weiter gingen und schon bald in den Wald abbogen.


Nach einigen Stunden, es wurde wohl schon Mittag, hingen dem Vater ein paar Hasen über der Schulter, zusammen gebunden an den Hinterläufen. Nahri hatte nicht einen von ihnen erlegt. Doch meinte sie stolz, das sie bei jedem Schuß sicherer wurde und bestimmt bald selbst einen als Beute ansehen könne. Über ihre Worte schmunzelnd suchte der Mann den Waldboden erneut nach Spuren ab, um ihr nächstes Ziel auszumachen. Der große Fang fehlte noch, um auch andere Familien des Dorfes mit Fleisch zu versorgen. Er kniete sich nieder und untersuchte die Spuren eines Ebers, die selbst für Nahris Verständnis recht frisch im schlammigen Boden erschienen, und scheinbar Blutstropfen in sich trugen. Mit einer Hand fuhr der Mann über die Fährte, und begutachtete die rote Schmiere, die daraufhin seine Finger bedeckten. Er streckte die Hand, in der sein Bogen lag, lang aus und flüsterte seiner Tochter zu sie solle still sein und hier warten. Sich nicht rühren. Langsam richtete er sich auf und pirschte voran, den Blick geradeaus gerichtet. Gegen den Stamm eines Baumes gelehnt wartete das Mädchen und sah ihm nach, bis er außer Sicht war.


Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. War es schon länger so still? Wann hatte der Wald alle Laute verschluckt? Über ihr raschelte es. Nahri sog ruckartig einen Schwall Luft ein, was für ihre Ohren ein viel zu lautes Geräusch in der Stille verursachte. Erschrocken hob sie den Kopf und blickte ein weiteres mal in die schwarzen Augen eines Raben.
"Du schon wieder... " flüsterte sie verwirrt. "Langsam fühle ich mich verfolgt... Verschwinde!"
Verärgert über sich selbst, weil der Schreck, schon wieder nur wegen eines Vogels, so in sie gefahren war, zog sie die Augenbrauen zusammen.
"Hau ab oder ich schieß dir einen Pfeil durch den Flügel!" drohte sie ihm leise und hob ihren Bogen an um den Worten Überzeugung mitzugeben.
Doch plötzlich nahm sie ein neues Geräusch war, ein scharren und grunzen, direkt vor sich. Langsam und mit angehaltener Luft senkte das Mädchen den Kopf um die Quelle des Geräusches ausmachen zu können. Da stand er, nur wenige Schritte vor ihr. Der wohl größte Eber, den sie je gesehen hatte. Struppig und schmutzig braun war die stämmige Figur. Seine Augen rollten vor Hass und aus seiner Schnauze quoll rosiger Schaum. An seiner Seite steckte der Rest eines Pfeilschaftes, samt halb zerstörtem Gefieder. Die Spitze hatte sich wohl tief in das Fleisch gebohrt, doch nicht tief genug um das Tier zu erlegen. Verkrustetes, doch auch frisches, Blut verklebte das dicke Fell. Panik überkam Nahri. So fest sie konnte presste sie sich gegen den Stamm des Baumes, die Augen vor Angst geweitet. Eigentlich wollte sie den Bogen heben, dem Eber einen Pfeil in den Kopf jagen, oder schreiend davon laufen, nach dem Vater rufen. Den Baum hinauf klettern oder... Doch weder bewegte sie sich in irgendeiner Form, noch entglitt ihrer Kehle ein Laut.
Das Tier schwankte für einen kurzen Moment und knickte mit den Vorderläufen ein. Stampfte dann jedoch hasserfüllt auf den Waldboden und fixierte das kleine Menschlein. Er wollte wohl seine Wut über den Schmerz, der ihn peinigte, an irgendetwas auslassen. Ein böses Schnauben entwich seinem Maul, bevor er einen Satz machte und in einen Galopp verfiel, mit gesenkten gelblichen Hauern direkt auf das Mädchen zustürmte. Sie kann sich nicht mehr genau erinnern, was dann geschah. Es ging alles viel zu schnell. Dem Mädchen versagten die Knie und es sackte langsam an dem Stamm herab. Ihre Hände trafen auf den Boden, in den sich die Finger hinein verkrampften. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schwarze Federn stürmten an ihren Augen vorbei und flogen um den Kopf des Ebers herum. Dieser stoppte, erdige Klumpen flogen ihr entgegen. Er wandte sich von Nahri ab, stellte sich fast auf die Hinterläufe, brachte entsetzliche Geräusche hervor, begleitet von Gekrächze, das wohl von dem Raben herrührte. Dann wurde es gänzlich schwarz vor ihren Augen.


Etwas rüttelte an ihrer Schulter.
"Nahri...?" klang es wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. "Nahri...! Nahri komm zu dir! Es ist vorbei."
Das Mädchen blinzelte. Sonnenstrahlen fielen in ihre Augen. "Bin ich... tot?" Brachte sie kläglich hervor und blickte ins Gesicht ihres Vaters, das ihr leicht verschwommen vorkam..
"Nein... nein bist du nicht." Er lächelte erleichtert, drückte sie dann fest an sich und hob sie auf seinen Arm.
Der Bogen, den Nahri wohl die ganze Zeit fest umklammert hatte, fiel kraftlos aus ihren Händen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte sich ebenfalls fest an ihn. Über seiner Schulter hinweg erblickte sie einen riesigen braunen Haufen, den sie kaum als den Eber erkennen konnte. Gespickt mit weiteren Pfeilen, diese gehörten eindeutig ihrem Vater. Ein paar Schritt weiter auf dem Waldboden lag ein zweiter, sehr viel kleinerer, Haufen schwarzer Federn. Einen Flügel nach oben abgespreizt. Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen und sie vergrub ihr Gesicht an dem Hals des Mannes. Eine Weile wiegte er seine Tochter auf dem Arm, doch irgendwann setzte er sie wieder zurück auf den Boden.
"Wir müssen zum Dorf zurück und ein paar Mann holen, die den Eber tragen können. Ich denke wir beide sind zu schwach dafür." Er griff sanft nach ihrer Nase und lächelte sie erneut an. "Und heute Abend gibt es einen saftigen Schweinebraten!"
Seine starken Hände umklammerten fest und tröstlich die Arme seiner Tochter. Sich die Tränen aus den Augen wischend lächelte Nahri zurück, bevor sie scheu ihren Blick zurück auf den Eber richtete. Gerade in dem Moment bewegte sich der Flügel des vermeintlich toten Rabens. Das Mädchen löste sich aus dem Griff ihres Vaters und lief zu dem Vogel hinüber. Setzte sich vor ihm in die Hocke und streichelte sanft über die Federn. Das Tier protestierte vorerst lautstark und pickte nach ihrer Hand. Doch erstab dieser Protest schnell, da er sich nicht aufrichten konnte um dem zu entfliehen. Still und mit leicht geöffnetem Schnabel blieb er liegen und ließ es einfach zu. Der Mann kam hinzu und blickte den Raben prüfend an. Streckte die Hände aus, um ihn vorsichtig aufzuheben.
"Mh... der Flügel ist gebrochenen und verdreht... Und ein Bein scheint auch angeknackst. So kann er nicht allein überleben... wir sollten ihn von seinem Leid erlösen..." murmelte der Mann gedankenverloren.
"NEIN!" Schrie Nahri mit entsetztem Blick. "Er hat mir doch das Leben gerettet!"
Sie griff nach dem Tier und nahm es in die eigenen Hände, drückte es sacht an sich und streichelte wiederum über seine Federn, während sie sich die nachkommenden Tränen weg blinzelte. Ihr Vater hob eine Augenbraue und strich sich mit einer Hand über den Stoppelbart, während er das Tier prüfend begutachtete.
"Es ist ein recht junger Bursche, Raben können sehr alt werden, weißt du...? Und dieser hier scheint stark zu sein...“ Er bückte sich zu seiner Tochter herab und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
"Wenn du dich wirklich gut um ihn kümmerst... Mit viel Glück und reichlich Pflege kann er vielleicht gesund werden und sein Leben fortführen. Alleine schafft er es nicht." Fest blickte er sie an. "Wenn er jedoch nicht gesund wird mußt du mir versprechen ihn zu erlösen."
Sie nickte und wiederum rollten Tränen über ihre Wangen.


Schweigend und den Blick kaum von dem Raben in ihren Armen abwendend ging sie neben dem Vater den langen Weg zurück zum Dorf. Der schwarze Vogel wehrte sich nicht dagegen und gab nur ab und an ein paar klackernde Geräusche von sich...


Seit jenen Tagen wird Nahri‘Shay oftmals von einem Raben begleitet. Stets sieht dieser leicht zerzaust aus, klackert jedoch zufrieden mit seinem Schnabel, wann immer die junge Frau über sein Gefieder streicht...